Hamburgische Dramaturgie. Gotthold Ephraim LessingЧитать онлайн книгу.
koennen; die Leidenschaften nicht beschreiben, sondern vor den Augen des Zuschauers entstehen und ohne Sprung in einer so illusorischen Stetigkeit wachsen zu lassen, dass dieser sympathisieren muss, er mag wollen oder nicht: das ist es, was dazu noetig ist; was das Genie, ohne es zu wissen, ohne es sich langweilig zu erklaeren, tut, und was der bloss witzige Kopf nachzumachen, vergebens sich martert.
Tasso scheinet in seinem Olint und Sophronia den Virgil in seinem Nisus und Euryalus vor Augen gehabt zu haben. So wie Virgil in diesen die Staerke der Freundschaft geschildert hatte, wollte Tasso in jenen die Staerke der Liebe schildern. Dort war es heldenmuetiger Diensteifer, der die Probe der Freundschaft veranlasste: hier ist es die Religion, welche der Liebe Gelegenheit gibt, sich in aller ihrer Kraft zu zeigen. Aber die Religion, welche bei dem Tasso nur das Mittel ist, wodurch er die Liebe so wirksam zeiget, ist in Cronegks Bearbeitung das Hauptwerk geworden. Er wollte den Triumph dieser in den Triumph jener veredeln. Gewiss, eine fromme Verbesserung—weiter aber auch nichts, als fromm! Denn sie hat ihn verleitet, was bei dem Tasso so simpel und natuerlich, so wahr und menschlich ist, so verwickelt und romanenhaft, so wunderbar und himmlisch zu machen, dass nichts darueber!
Beim Tasso ist es ein Zauberer, ein Kerl, der weder Christ noch Mahomedaner ist, sondern sich aus beiden Religionen einen eigenen Aberglauben zusammengesponnen hat, welcher dem Aladin den Rat gibt, das wundertaetige Marienbild aus dem Tempel in die Moschee zu bringen. Warum machte Cronegk aus diesem Zauberer einen mahomedanischen Priester? Wenn dieser Priester in seiner Religion nicht ebenso unwissend war, als es der Dichter zu sein scheinet, so konnte er einen solchen Rat unmoeglich geben. Sie duldet durchaus keine Bilder in ihren Moscheen. Cronegk verraet sich in mehrern Stuecken, dass ihm eine sehr unrichtige Vorstellung von dem mahomedanischen Glauben beigewohnet. Der groebste Fehler aber ist, dass er eine Religion ueberall des Polytheismus schuldig macht, die fast mehr als jede andere auf die Einheit Gottes dringet. Die Moschee heisst ihm "ein Sitz der falschen Goetter", und den Priester selbst laesst er ausrufen:
"So wollt ihr euch noch nicht mit Rach' und Strafe ruesten, Ihr Goetter?
Blitzt, vertilgt das freche Volk der Christen!"
Der sorgsame Schauspieler hat in seiner Tracht das Kostuem, vom Scheitel bis zur Zehe, genau zu beobachten gesucht; und er muss solche Ungereimtheiten sagen!
Beim Tasso koemmt das Marienbild aus der Moschee weg, ohne dass man eigentlich weiss, ob es von Menschenhaenden entwendet worden, oder ob eine hoehere Macht dabei im Spiele gewesen. Cronegk macht den Olint zum Taeter. Zwar verwandelt er das Marienbild in "ein Bild des Herrn am Kreuz"; aber Bild ist Bild, und dieser armselige Aberglaube gibt dem Olint eine sehr veraechtliche Seite. Man kann ihm unmoeglich wieder gut werden, dass er es wagen koennen, durch eine so kleine Tat sein Volk an den Rand des Verderbens zu stellen. Wenn er sich hernach freiwillig dazu bekennet: so ist es nichts mehr als Schuldigkeit, und keine Grossmut. Beim Tasso laesst ihn bloss die Liebe diesen Schritt tun; er will Sophronien retten, oder mit ihr sterben; mit ihr sterben, bloss um mit ihr zu sterben; kann er mit ihr nicht ein Bette besteigen, so sei es ein Scheiterhaufen; an ihrer Seite, an den naemlichen Pfahl gebunden, bestimmt, von dem naemlichen Feuer verzehret zu werden, empfindet er bloss das Glueck einer so suessen Nachbarschaft, denket an nichts, was er jenseit dem Grabe zu hoffen habe, und wuenschet nichts, als dass diese Nachbarschaft noch enger und vertrauter sein moege, dass er Brust gegen Brust druecken und auf ihren Lippen seinen Geist verhauchen duerfe.
Dieser vortreffliche Kontrast zwischen einer lieben, ruhigen, ganz geistigen Schwaermerin und einem hitzigen, begierigen Juenglinge ist beim Cronegk voellig verloren. Sie sind beide von der kaeltesten Einfoermigkeit; beide haben nichts als das Maertertum im Kopfe; und nicht genug, dass er, dass sie fuer die Religion sterben wollen; auch Evander wollte, auch Serena haette nicht uebel Lust dazu.
Ich will hier eine doppelte Anmerkung machen, welche, wohl behalten, einen angehenden tragischen Dichter vor grossen Fehltritten bewahren kann. Die eine betrifft das Trauerspiel ueberhaupt. Wenn heldenmuetige Gesinnungen Bewunderung erregen sollen: so muss der Dichter nicht zu verschwenderisch damit umgehen; denn was man oefters, was man an mehrern sieht, hoeret man auf zu bewundern. Hierwider hatte sich Cronegk schon in seinem "Kodrus" sehr versuendiget. Die Liebe des Vaterlandes, bis zum freiwilligen Tode fuer dasselbe, haette den Kodrus allein auszeichnen sollen: er haette als ein einzelnes Wesen einer ganz besondern Art dastehen muessen, um den Eindruck zu machen, welchen der Dichter mit ihm im Sinne hatte. Aber Elesinde und Philaide, und Medon, und wer nicht? sind alle gleich bereit, ihr Leben dem Vaterlande aufzuopfern; unsere Bewunderung wird geteilt, und Kodrus verlieret sich unter der Menge. So auch hier. Was in "Olint und Sophronia" Christ ist, das alles haelt gemartert werden und sterben fuer ein Glas Wasser trinken. Wir hoeren diese frommen Bravaden so oft, aus so verschiedenem Munde, dass sie alle Wirkung verlieren.
Die zweite Anmerkung betrifft das christliche Trauerspiel insbesondere. Die Helden desselben sind mehrenteils Maertyrer. Nun leben wir zu einer Zeit, in welcher die Stimme der gesunden Vernunft zu laut erschallet, als dass jeder Rasender, der sich mutwillig, ohne alle Not, mit Verachtung aller seiner buergerlichen Obliegenheiten in den Tod stuerzet, den Titel eines Maertyrers sich anmassen duerfte. Wir wissen itzt zu wohl die falschen Maertyrer von den wahren zu unterscheiden; wir verachten jene ebensosehr, als wir diese verehren, und hoechstens koennen sie uns eine melancholische Traene ueber die Blindheit und den Unsinn auspressen, deren wir die Menschheit ueberhaupt in ihnen faehig erblicken. Doch diese Traene ist keine von den angenehmen, die das Trauerspiel erregen will. Wenn daher der Dichter einen Maertyrer zu seinem Helden waehlet: dass er ihm ja die lautersten und triftigsten Bewegungsgruende gebe! dass er ihn ja in die unumgaengliche Notwendigkeit setze, den Schritt zu tun, durch den er sich der Gefahr blossstellet! dass er ihn ja den Tod nicht freventlich suchen, nicht hoehnisch ertrotzen lasse! Sonst wird uns sein frommer Held zum Abscheu, und die Religion selbst, die er ehren wollte, kann darunter leiden. Ich habe schon beruehret, dass es nur ein ebenso nichtswuerdiger Aberglaube sein konnte, als wir in dem Zauberer Ismen verachten, welcher den Olint antrieb, das Bild aus der Moschee wieder zu entwenden. Es entschuldiget den Dichter nicht, dass es Zeiten gegeben, wo ein solcher Aberglaube allgemein war und bei vielen guten Eigenschaften bestehen konnte; dass es noch Laender gibt, wo er der frommen Einfalt nichts Befremdendes haben wuerde. Denn er schrieb sein Trauerspiel ebensowenig fuer jene Zeiten, als er es bestimmte, in Boehmen oder Spanien gespielt zu werden. Der gute Schriftsteller, er sei von welcher Gattung er wolle, wenn er nicht bloss schreibet, seinen Witz, seine Gelehrsamkeit zu zeigen, hat immer die Erleuchtesten und Besten seiner Zeit und seines Landes in Augen, und nur was diesen gefallen, was diese ruehren kann, wuerdiget er zu schreiben. Selbst der dramatische, wenn er sich zu dem Poebel herablaesst, laesst sich nur darum zu ihm herab, um ihn zu erleuchten und zu bessern; nicht aber ihn in seinen Vorurteilen, ihn in seiner unedeln Denkungsart zu bestaerken.
Zweites Stueck Den 5. Mai 1767
Noch eine Anmerkung, gleichfalls das christliche Trauerspiel betreffend, wuerde ueber die Bekehrung der Clorinde zu machen sein. So ueberzeugt wir auch immer von den unmittelbaren Wirkungen der Gnade sein moegen, so wenig koennen sie uns doch auf dem Theater gefallen, wo alles, was zu dem Charakter der Personen gehoeret, aus den natuerlichsten Ursachen entspringen muss. Wunder dulden wir da nur in der physikalischen Welt; in der moralischen muss alles seinen ordentlichen Lauf behalten, weil das Theater die Schule der moralischen Welt sein soll. Die Bewegungsgruende zu jedem Entschlusse, zu jeder Aenderung der geringsten Gedanken und Meinungen, muessen, nach Massgebung des einmal angenommenen Charakters, genau gegeneinander abgewogen sein, und jene muessen nie mehr hervorbringen, als sie nach der strengsten Wahrheit hervorbringen koennen. Der Dichter kann die Kunst besitzen, uns, durch Schoenheiten des Detail, ueber Missverhaeltnisse dieser Art zu taeuschen; aber er taeuscht uns nur einmal, und sobald wir wieder kalt werden, nehmen wir den Beifall, den er uns abgetaeuschet hat, zurueck. Dieses auf die vierte Szene des dritten Akts angewendet, wird man finden, dass die Reden und das Betragen der Sophronia die Clorinde zwar zum Mitleiden haetten bewegen koennen, aber viel zu unvermoegend sind, Bekehrung an einer Person zu wirken, die gar keine Anlage zum Enthusiasmus hat. Beim Tasso nimmt Clorinde auch das Christentum an; aber in ihrer letzten Stunde; aber erst, nachdem sie kurz zuvor erfahren, dass ihre Eltern diesem Glauben zugetan gewesen: feine, erhebliche Umstaende, durch welche die Wirkung einer hoehern Macht in die Reihe natuerlicher Begebenheiten gleichsam mit eingeflochten wird. Niemand hat es besser verstanden, wie weit man in diesem Stuecke auf dem Theater gehen duerfe, als Voltaire.