Das Dschungelbuch. Редьярд КиплингЧитать онлайн книгу.
sie aus ihrer Ruhe aufschreckt, und stürzen sich leicht blindlings auf den Störenfried. Auch lernte Mogli den Jagdruf des Fremdlings, den man, falls man in fremden Gründen jagen will, so lange wiederholen muß, bis Antwort erschallt. Der Ruf lautet: »Laßt mich hier jagen, denn leer ist mein Magen.« Und die Antwort ist: »Jag, um den Hunger zu stillen – nicht um des Vergnügens willen!«
Ja, unendlich viel hatte Mogli zu lernen, und oftmals ermüdete es ihn, hundertmal den gleichen Spruch zu wiederholen. Dashalf ihm jedoch nichts, denn, wie Balu eines Tages zu Baghira sagte, als Mogli nach einer Züchtigung bockig davongerannt war: »Menschenjunges ist Menschenjunges, und alle Gesetze der Dschungel muß er lernen.«
»Aber bedenke doch, wie klein er ist!« meinte der schwarze Panther, der – wäre es nur nach ihm gegangen – Mogli ganz und gar verzogen hätte. »Wie kann denn in seinem kleinen Kopfe für all dein langes Gerede Raum sein!«
»Klein? Ist in der Dschungel irgend etwas zu klein, um getötet zu werden, wie? Darum lehre ich ihn alles das beizeiten, darum schlage ich ihn bisweilen – nur ein wenig und ganz sanft –, wenn er vergißt.«
»Sanft! Was verstehst du denn von Sanftheit, alter Eisenfuß!« grollte Baghira. »Ganz braun und blau war sein Gesicht heute morgen – von deinem Sanftsein. Uff!«
»Besser, er hat jetzt ein paar blaue Flecke, als daß er später durch Unwissenheit zu Schaden kommt!« antwortete Balu sehr ernst, »denn ich habe ihn lieb. Jetzt lehre ich ihn gerade die Meisterworte, Urworte der Völker der Dschungel, die ihm Schutz gewähren bei Vögeln und Schlangenvolk und bei allem, was vierfüßig auf dem Erdboden jagt. Wenn er die Worte behält, dann kann er bei allen Völkern der Dschungel Schutz und Hilfe heischen. Ist das nicht ein paar Schläge wert?«
»Na, paß nur auf, daß du das Menschenjunge nicht totschlägst. Er ist kein Baumstamm, an dem du deine stumpfen Krallen schärfen kannst. Übrigens, wie heißen denn deine prächtigen Meisterworte? Zwar bin ich gewöhnt, eher Hilfe zu gewähren, anstatt sie zu suchen«, Baghira reckte und streckte die Pranke und blickte voll Stolz auf die stahlblauen, eisenstarken Krallen – »doch möchte ich die Worte ganz gern kennen.«
»Ich werde Mogli rufen, er soll sie sprechen – das heißt, falls er will. Komm her, kleiner Bruder!«
»Mein Kopf brummt mir wie ein Bienenstock«, tönte eine mürrische Stimme über ihnen; gleich darauf raschelte es im Blattwerk, und Mogli glitt den Baumstamm herab. Er machte ein ärgerliches Gesicht und sagte trotzig: »Nur Baghira zuliebe komme ich und nicht deinetwegen, alter fetter Balu!«
»Das macht mir nichts«, sagte Balu, obgleich er sich gekränkt fühlte. »Sage also deinem Baghira die Meisterworte der Dschungel, die du heute gelernt hast!«
»Meisterworte welches Volkes?« fragte Mogli, im Grunde froh, sein Wissen zeigen zu können. »Viele Sprachen hat die Dschungel. Ich weiß sie alle.«
»Ein paar weißt du, aber längst nicht alle. Da siehst du wieder, Baghira, wie wenig ein Lehrer Dank erntet. Noch nie ist einer der Wölflinge zurückgekommen, um mir ein Wort des Dankes zu sagen. Brrr! Und nun sage uns mal, du großer Gelehrter, wie heißt der Spruch, der allgemeine Jagdspruch?«
»Du und ich, und ich und du, wir sind vom gleichen Blute«, gab Mogli die Worte in der Bärensprache, die alle Jagdvölker benutzen.
»Gut«, sagte Balu. »Nun das Vogelwort!«
Mogli wiederholte den Spruch und schloß mit dem hohlen, langgezogenen Pfiff des Geiers.
»Jetzt das Wort der Schlangenvölker«, sagte Baghira.
Die Antwort war ein unbeschreibliches, scharfes Zischen. Dann schlug Mogli ein Rad vor Freude, klatschte sich selbst Beifall, sprang auf Baghiras Rücken und trommelte mit den Beinen gegen das glänzende Fell, während er seinem Lehrer die fürchterlichsten Grimassen schnitt.
»Das ist schon ein paar blaue Flecke wert«, sagte der Bär, zärtlich schmunzelnd. »Du wirst mir schon einmal dafür danken, mein kleiner Bruder!« Und damit wandte er sich zu Baghira und erzählte ihm, wie er Hathi, den wilden Elefanten, gebeten habe, ihm die Meisterworte zu verraten – denn Hathi weiß alles; und wie dann Hathi Mogli selbst mit nach dem Sumpf genommen habe, um das Schlangenwort von den Wasserschlangen zu erfahren, denn das vermochte Balu nicht auszusprechen. Und nun wäre Mogli gegen alles Unglück in der Dschungel gefeit, da weder Schlangen noch Vögel noch Raubtiere ihm etwas anhaben könnten.
»Keinen also hat er mehr zu fürchten«, schloß Balu seinen Bericht, sich stolz auf den pelzigen Bauch klatschend.
»Sein eigenes Volk ausgenommen«, brummte Baghira leise und dann laut zu Mogli: »Meine Rippen! Du schlägst sie mir ja kaputt, kleiner Bruder. Was soll denn das Herumgetanze immerwährend?«
Mogli hatte versucht, die Aufmerksamkeit der beiden Freunde auf sich zu lenken, deshalb zauste er kräftig Baghiras haariges Fell und trommelte ihm mit den Füßen gegen die Rippen. Als sie endlich hörten, rief er aus vollem Halse: »Und ich werde einmal mein eigenes Volk für mich haben, jawohl, und werde es von morgens bis abends durch die Baumstraßen führen!«
»Was ist denn das wieder für eine Dummheit, du Traumhans?« fragte Baghira.
»Jawohl! Und dann werde ich Äste und sonst noch allerlei auf den alten Balu hinabwerfen. Das haben sie mir versprochen! Jawohl!«
»Wuf!« Balus große Tatze fegte Mogli von Baghiras Rücken; und als der Knabe zwischen den Vordertatzen des Panthers lag, konnte er sehen, daß sein Lehrer ergrimmt war.
»Mogli!« brummte Balu, »du hast mit den Bandar-log gesprochen, dem Affenvolke!«
Mogli schielte zu Baghira hinauf, um zu sehen, ob auch der Panther ärgerlich war, und Baghiras Augen blickten grünlich und hart wie Jadestein.
»Was? Bei den Affen bist du gewesen? Bei den grauen Narren – den Leuten ohne Gesetz – den Allesfressern? Oh, Schmach und Schande!«
»Als Balu mich das letztemal schlug«, sagte Mogli, immer noch auf dem Rücken liegend, »bin ich fortgerannt, und die grauen Affen kamen von den Bäumen und hatten Mitleid mit mir. Niemand sonst hatte es.« Seine Stimme war ein wenig unsicher.
»Mitleid bei den Affen!« schnarrte Balu. »Sprich lieber von der Stille des reißenden Bergbaches, der Kälte der glühenden Sommersonne. Und was geschah dann, Menschenjunges?«
»Und dann, und dann gaben sie mir Nüsse und allerlei schöne Dinge zu essen, und sie … sie trugen mich in ihren Armen in die höchsten Wipfel und sagten, ich sei ihr Blutsverwandter – nur der Schwanz fehle mir, und eines Tages würde ich ihr Führer sein.«
»Sie sind stets führerlos«, rief Baghira. »Sie lügen. Immer haben sie gelogen.«
»Sehr gut waren sie zu mir und baten mich, wiederzukommen. Warum habt ihr mich nie zu dem Affenvolk gebracht? Aufrecht stehen sie auf den Füßen wie ich. Sie schlagen nicht mit harten Pranken. Sie spielen den ganzen Tag. Laßt mich auf! Böser, alter Balu, laß mich aufstehen! Ich will zu ihnen und mit ihnen spielen!«
»Höre, Menschenjunges«, sagte der Bär, und seine Stimme grollte wie Donner in schwüler Nacht. »Ich lehrte dich die Gesetze aller Völker der Dschungel, mit Ausnahme des Affenvolkes, das in den Bäumen haust. Ihr Volk hat kein Gesetz; rechtlos sind sie. Nicht einmal eine eigene Sprache haben sie, sondern stehlen sich Wörter von anderen, deren Gespräche sie belauschen. Nein – ihre Art ist nicht unsere Art. Führerlos sind sie und denken nur an den Augenblick. Sie prahlen und schwatzen und machen Geschrei, daß sie ein mächtiges Volk wären und bald Großes vollführen würden in der Dschungel; wenn aber Nüsse fallen, dann ist alles vergessen, sie kichern und toben. Wir von der Dschungel haben nichts mit ihnen gemein. Wir trinken nicht, wo Affen trinken, wir meiden die Plätze, wo Affen hinkommen, wir jagen nicht, wo sie jagen, wir sterben nicht, wo sie sterben. Hast du mich jemals bis heute von den Bandar-log sprechen hören?«
»Nein!« flüsterte Mogli – denn Schweigen herrschte im Walde, als Balu verstummte.
»Die Dschungelleute sprechen nicht von ihnen und halten es nicht für der Mühe wert, an sie zu denken. Zahlreich sind sie, diese Affen, böse, schamlos, schmutzig, und ihr einziger Wunsch ist – falls sie