Der Weg ins Freie. Arthur SchnitzlerЧитать онлайн книгу.
er sich doch manchmal zu seinem eigenen Erstaunen selbst als Mitspieler entdeckte; endlich Heinrich Bermann, in einem zu weiten Sommeranzug, mit einem zu billigen Strohhut, mit einer zu lichten Kravatte, der bald lauter sprach und bald tiefer schwieg als die andern. Zuletzt, ohne jede Begleitung und in sicherer Haltung war Anna Rosner erschienen, hatte mit leichtem Kopfnicken die Gesellschaft begrüßt und ungezwungen zwischen Frau Ehrenberg und Georg Platz genommen. »Die hab ich für Sie eingeladen«, bemerkte Frau Ehrenberg leise zu Georg, der sich bis zu diesem Abend mit Anna auch in Gedanken kaum beschäftigt hatte. Jene Worte, vielleicht nur einem flüchtigen Einfall der Frau Ehrenberg entsprungen, wurden im weiteren Verlauf des Abends wahr. Von dem Augenblick an, da die Gesellschaft aufbrach und ihre fidele Reise durch den Volksprater antrat, überall, in den Buden, im Ringelspiel, vor dem Wurstel und auch auf dem Heimweg in die Stadt, der spaßhafter Weise zu Fuß gemacht wurde, hatten sich Georg und Anna zusammen gehalten und waren endlich, von lustigen und törichten Gesprächen umschwirrt, in eine ganz vernünftige Unterhaltung geraten. Ein paar Tage später war er bei ihr und brachte ihr, wie versprochen, den Klavierauszug von »Eugen Onegin« und einige von seinen Liedern; bei seinem nächsten Besuch sang sie ihm diese Lieder und manche von Schubert vor, und ihre Stimme gefiel ihm sehr. Bald darauf nahmen sie für den Sommer voneinander Abschied, ohne jede Spur von Wehmut und Zärtlichkeit; Annas Einladung nach Weißenfeld hatte Georg nur als Höflichkeit aufgefaßt, so wie er seine Zusage verstanden glaubte; und im Vergleich zu der Harmlosigkeit des bisherigen Verkehrs durfte die Stimmung des heutigen Besuchs Georg wohl eigentümlich erscheinen.
Auf dem Stephansplatz sah sich Georg von jemandem gegrüßt, der auf der Plattform eines Stellwagens stand. Georg, der etwas kurzsichtig war, erkannte den Grüßenden nicht gleich.
»Ich bins«, sagte der Herr auf der Plattform.
»O, Herr Bermann! Guten Abend«, Georg reichte ihm die Hand hinauf. »Wohin des Wegs?«
»Ich fahre in den Prater. Ich will unten nachtmahlen. Haben Sie etwas besondres vor, Herr Baron?«
»Nicht das geringste.«
»So kommen Sie doch mit.«
Georg schwang sich auf den Omnibus, der eben weiterzurumpeln begann. Sie erzählten einander beiläufig, wie sie den Sommer verbracht hatten. Heinrich war im Salzkammergut gewesen, später in Deutschland, von wo er erst vor ein paar Tagen zurückgekommen war.
»Ach in Berlin«, meinte Georg.
»Nein.«
»Ich dachte, daß Sie vielleicht in Angelegenheit eines neuen Stückes… «
»Ich habe kein neues Stück geschrieben«, unterbrach ihn Heinrich etwas unhöflich. »Ich war im Taunus und am Rhein, in verschiedenen Orten.«
Was hat er denn am Rhein zu tun, dachte Georg, obwohl es ihn nicht weiter interessierte. Es fiel ihm auf, daß Bermann zerstreut, ja beinahe verdüstert vor sich hinschaute.
»Und wie steht's denn mit Ihren Arbeiten, lieber Baron?« fragte Heinrich plötzlich lebhaft, während er den dunkelgrauen Überzieher, der ihm um die Schulter hing, enger um sich schlug. »Ist Ihr Quintett fertig?«
»Mein Quintett?« wiederholte Georg verwundert. »Hab' ich Ihnen denn von meinem Quintett gesprochen?«
»Nein, nicht Sie; aber Fräulein Else sagte mir, daß Sie an einem Quintett arbeiten.«
»Ach so, Fräulein Else. Nein, ich bin nicht viel weiter gekommen. Ich war nicht gerade in der Stimmung, wie Sie sich denken können.«
»Ach ja«, sagte Heinrich und schwieg eine Weile. »Und Ihr Herr Vater war noch so jung«, fügte er langsam hinzu.
Georg nickte wortlos.
»Wie geht's Ihrem Bruder?« fragte Heinrich plötzlich.
»Danke recht gut«, erwiderte Georg etwas befremdet. Heinrich warf seine Zigarre über die Brüstung und zündete sich gleich wieder eine neue an. Dann sagte er: »Sie werden sich wundern, daß ich mich nach Ihrem Bruder erkundige, den ich kaum jemals gesprochen habe. Er interessiert mich aber. Er stellt für mich einen in seiner Art geradezu vollendeten Typus dar, und ich halte ihn für einen der glücklichsten Menschen, die es gibt.«
»Das mag wohl sein«, erwiderte Georg zögernd. »Aber wie kommen Sie eigentlich zu der Ansicht, da Sie ihn kaum kennen?«
»Erstens heißt er Felician Freiherr von Wergenthin-Recco«, sagte Heinrich sehr ernst und blies den Rauch in die Luft.
Georg horchte mit einigem Erstaunen auf.
»Sie heißen wohl auch Wergenthin-Recco«, fuhr Heinrich fort, »aber nur Georg – und das ist lang nicht dasselbe, nicht wahr? Ferner ist Ihr Bruder sehr schön. Sie schauen allerdings auch nicht übel aus. Aber Leute, deren hauptsächliche Eigenschaft es ist, schön zu sein, sind doch eigentlich viel besser dran als andre, deren hauptsächliche Eigenschaft es ist, begabt zu sein. Wenn man nämlich schön ist, so ist man es immer, während die Begabten doch mindestens neun Zehntel ihrer Existenz ohne jede Spur von Talent verbringen. Ja, gewiß ist es so. Die Linie des Lebens ist sozusagen reiner, wenn man schön als wenn man ein Genie ist. Übrigens ließe sich das alles besser ausdrücken.«
Was hat er denn, dachte Georg unangenehm berührt. Sollte er vielleicht auf Felician eifersüchtig sein… wegen Else Ehrenberg?
Auf dem Praterstern stiegen sie aus. Der große Strom der Sonntagsmenge flutete ihnen entgegen. Sie nahmen den Weg in die Hauptallee, wo es nicht mehr belebt war, und gingen langsam weiter. Es war kühl geworden. Georg machte Bemerkungen über die herbstliche Abendstimmung, über die Leute, die in den Wirtshäusern saßen, über die Militärkapellen, die in den Kiosken spielten. Heinrich entgegnete anfangs obenhin, später gar nicht und schien endlich kaum zuzuhören, was Georg ungezogen fand. Er bereute es beinahe, sich Heinrich angeschlossen zu haben, umsomehr, als es sonst gar nicht seine Art war, flüchtigen Aufforderungen ohne weiteres zu folgen; und er entschuldigte sich vor sich selbst, daß er es diesmal nur aus Zerstreutheit getan hätte. Heinrich ging neben ihm her, oder auch ein paar Schritte voraus, als hätte er Georgs Anwesenheit vollkommen vergessen. Noch immer hielt er den umgehängten Überzieher mit beiden Händen fest, trug den weichen, dunkelgrauen Hut in die Stirn gedrückt und sah, was Georg plötzlich empfindlich zu stören begann, höchst unelegant aus. Heinrich Bermanns frühere Bemerkungen über Felician kamen ihm nun abgeschmackt und geradezu taktlos vor, und zu rechter Zeit fiel ihm ein, daß so ziemlich alles, was er von den schriftstellerischen Leistungen Heinrichs kannte, ihm wider den Strich gegangen war. Zwei Stücke von ihm hatte er gesehen: eines, das in den untern Volksschichten spielte, unter Handwerkern oder Fabrikarbeitern und mit Mord und Totschlag endete; das andere, eine Art von satirischer Gesellschaftskomödie, bei deren Erstaufführung es einen Skandal gegeben hatte, und die bald wieder vom Repertoire verschwunden war. Übrigens hatte Georg den Autor damals noch nicht persönlich gekannt und an der ganzen Sache kein weiteres Interesse genommen. Er erinnerte sich nur, daß Felician das Stück geradezu lächerlich gefunden und daß Graf Schönstein geäußert hatte, wenn es nach ihm ginge, dürften Stücke von Juden überhaupt nur von der Budapester Orpheumsgesellschaft aufgeführt werden. Insbesondere aber hatte Doktor von Breitner, getauft und objektiv, seiner Empörung Ausdruck gegeben, daß so ein hergelaufener junger Mensch eine Welt auf die Bühne zu bringen wagte, die ihm selbstverständlich verschlossen war und von der er daher unmöglich etwas verstehen konnte. Während Georg all dies wieder einfiel, steigerte sich sein Ärger über das manierlose Weiterlaufen und beharrliche Schweigen seines Begleiters zu einer wahren Feindseligkeit, und halb unbewußt begann er allen Insulten recht zu geben, die damals gegen Bermann vorgebracht worden waren. Er erinnerte sich jetzt auch, daß ihm Heinrich von allem Anfang an persönlich unsympathisch gewesen war, und daß er sich zu Frau Ehrenberg ironisch über die Geschicklichkeit geäußert, mit der sie auch diesen jungen Ruhm sofort für ihren Salon einzufangen gewußt hatte. Else freilich hatte gleich Heinrichs Partei genommen, ihn für einen interessanten und manchmal sogar liebenswürdigen Menschen erklärt und Georg prophezeit, er würde über kurz oder lang mit ihm gut Freund werden. Und tatsächlich war in Georg, zum mindesten von jenem Gespräch heuer im Frühjahr nachts auf der Ringstraßenbank, eine gewisse Sympathie für Bermann zurückgeblieben, die bis zum heutigen Abend vorgehalten hatte.
Längst waren