Die Schlucht. Иван ГончаровЧитать онлайн книгу.
den Blumenbeeten dahin. Frohsinn leuchtete aus ihren graublauen Augen, Gesundheit und Frische strahlte aus ihren Zügen, und in dem leichten, durchsichtigen Gewand erschien sie inmitten dieser Blumen, dieser Sonnenstrahlen und der ganzen bunten Frühlingspracht selbst wie ein Regenbogen der Freude.
Boris sah das alles und hatte bereits ein Bild von ihr in seiner Vorstellung fertig; und auch sich selbst sah er neben ihr, so nachdenklich, schwerfällig. Es schien ihm, daß er nicht hineingehöre in dieses Bild – er hätte jung sein müssen, und frisch und lebhaft, mit demselben lebensfrohen Glanze in den Augen, denselben geschmeidigen Bewegungen wie sie.
Er hätte sie am liebsten ganz unparteiisch, als Künstler sehen und auffassen mögen, sie ganz allein, ohne seine eigene Gestalt. So sah er beispielsweise die Großtante ganz künstlerisch objektiv, in greisenhafter Schönheit, als lebendige, in sich geschlossene Gestalt, die er in aller Ruhe anschauen und wiedergeben konnte. Mit Marsinka hingegen wollte ihm das nicht gelingen, es wurde ihm schwer, sie so in künstlerischer Konzeption zu erfassen. Er sah sie in lebhafter, harmonischer Bewegung um sich herschweben, und der Garten erschien ihm schön, weil sie darin war. Sie ging von Beet zu Beet, musterte die Sträucher, die Blumen, hob da und dort ein Blütenköpfchen empor und zeigte es ihm.
»Diese Rose hier war vorgestern noch eine Knospe,« sagte sie und sah fast triumphierend auf die Blüte, die sie vorsichtig emporhob. »Sehen Sie nur, wie sie aufgeblüht ist!«
»Ganz wie du selbst!« sagte er.
»Ich danke, eine schöne Rose bin ich!«
»Du bist schöner als sie!«
»Riechen Sie doch, wie sie duftet!«
Er sog den Duft der Blume ein und ging dann weiter hinter Marsinka her.
»Diese Margueriten müssen begossen werden, und die Päonien auch,« rief sie und war schon in einer anderen Gartenecke, wo sie aus einer Tonne Wasser schöpfte. Voll Grazie trug sie die Gießkanne herbei, begoß die Sträucher und achtete sorgfältig darauf, daß jede Blume ihr Teilchen abbekam.
»In Petersburg blüht noch nicht einmal der Flieder!« sagte Raiski.
»Wirklich? Und bei uns ist er schon verblüht, jetzt fangen die Akazien an zu blühen. Wenn doch bald die Linden zur Blüte kämen – dieser Duft! Das ist für mich immer eine Festzeit!«
»Wieviel Singvögel es hier gibt!« sagte er und lauschte auf das Zwitschern und Pfeifen, das von den Zweigen klang.
»Wir haben hier auch Nachtigallen – dort, im Hain! Auch meine Vögel sind hier gefangen,« sagte sie. »Hier im Garten sind meine Beete: die habe ich selbst umgegraben. Dort sind Melonen gepflanzt, und da drüben wachsen Artischocken, Blumenkohl . . .«
»Wollen wir nicht nach dem Absturz gehen, Marsinka? Einen Blick auf die Wolga werfen?«
»Gehen wir, doch wage ich mich nicht zu nahe heran, ich fürchte mich. Es schwindelt mir. Und dann liebe ich diese Stelle auch nicht. Übrigens muß ich eilen, Tantchen sagte ja, ich solle das Mittagessen besorgen! Ich bin hier nämlich die Haushälterin, ich habe die Schlüssel vom Silberzeug und von der Vorratskammer. Ich lasse für Sie eingemachte Kirschen herausstellen – Wassilissa meinte, die äßen Sie so gern . . .«
Er dankte ihr mit einem Lächeln.
»Und was wollen Sie zu Mittag essen?« fragte sie. »Die Tante möchte Sie recht großartig bewirten.«
»Ich habe doch schon zu Mittag gegessen! Höchstens zum Abendbrot . . .«
»Wie denn? Vorher wird doch noch gevespert! Da gibt’s Tee oder saure Milch. Essen Sie gern frischen Käse, mit Sahne vielleicht? . . .«
»Ja, den esse ich ganz gern,« antwortete Raiski zerstreut.
»Oder wollen Sie lieber saure Milch?«
»Ja, saure Milch . . .«
»Was ziehen Sie also vor?« fragte sie, und als er keine Antwort gab, wandte sie sich um, um zu sehen, was seine Aufmerksamkeit von der Unterhaltung abzog.
Er aber beobachtete gerade, wie sie, über einen Graben hinwegschreitend, ihr Kleid samt dem gestickten Unterrock emporhob, und wie unter dem Kleide die runde, pralle Wade in dem weißen Strumpf und der in einem eleganten, mit rotem Saffian verzierten Lackschuh steckende zierliche Fuß zum Vorschein kam.
»Lackschuhe – ei!« sagte er. »Du putzst dich wohl gern, Marsinka?«
Er dachte, sie würde verlegen werden, und freute sich schon darauf, zu sehen, wie sie ganz verwirrt und beschämt das Kleid herunterlassen würde. Statt dessen jedoch hob sie den Rock noch etwas höher empor, damit er den Schuh ganz genau betrachten könnte.
»Die haben wir neulich mit Tantchen auf dem Jahrmarkt gekauft,« sagte sie unschuldig. »Auch Wjerotschka hat ein Paar bekommen, die sind aber lila, sie liebt diese Farbe sehr. Was wollen Sie also zu Mittag essen? Sie haben noch nichts gesagt!«
Er hörte jedoch nicht auf sie.
»Du brauchst keine Verschämtheit zu heucheln, du liebes Kind!« dachte er im stillen. Und laut fügte er dann hinzu:
»Ich mag nichts essen, Marsinka. Reich’ mir den Arm, wir wollen zur Wolga gehen!«
Er preßte ihren Arm an seine Brust und fühlte, wie sein Herz heftig schlug, als es so die Nähe dieses naiven, holden Kindes fühlte, das ihm zugleich als liebende Schwester und als frisch erblühende junge Schönheit erschien. Er hegte Befürchtungen, ob er wohl standhaft genug sein würde, sie mit dem bloßen Künstlerauge zu schauen, oder ob er, wie gewöhnlich, dem »Eindruck« erliegen würde.
Vor seinen Augen schwebte das Ideal einer reinen, einfachen Natur, und in seiner Vorstellung formte sich das Bild eines stillen Familienromans, während er zugleich fühlte, daß dieser Roman auf sein eigenes Ich hinübergriff, daß ihm dabei so wohl, so warm ward ums Herz, daß das Leben ringsum ihn mit hineinzog in sein Getriebe . . .
»Singst du, Marsinka?« fragte er.
»Ja . . . ein wenig,« antwortete sie etwas verlegen.
»Was denn?«
»Russische Romanzen; dann habe ich auch etwas italienische Musik getrieben, aber mein Lehrer ist abgereist. Ich singe zum Beispiel ›Una voce poco fa‹, doch fällt es mir nicht leicht. Und Sie – singen Sie auch?«
»Sehr gern, aber mit ungeschulter Stimme.«
»Was denn?«
»Alles.«
Und er sang zuerst eine Arie aus den »Lombarden« und dann einen Marsch aus der »Semiramis« und schwieg hierauf plötzlich.
Er sah ihr in die Augen, drückte ihren Arm und paßte seinen Schritt dem ihrigen an.
»Hier fehlt nichts weiter zum Glück,« dachte er. »Zugreifen, nicht lange in die Ferne schauen – so würde ein anderer an meiner Stelle handeln. Alles ist vorhanden für ein stilles Lebensglück – aber . . . dieses Glück ist nicht das meinige!« Er seufzte. »Die Augen gewöhnen sich – die Phantasie ermüdet – der Eindruck verblaßt, und die Illusion zerplatzt wie eine Seifenblase, ehe sie noch die Nerven tiefer ergriffen hat.«
Er ließ ihren Arm los und wurde nachdenklich.
»Warum sind Sie so schweigsam?« fragte sie. »Nicht ein Wort redet er!« dachte sie im stillen.
»Liest du gern, Marsinka?« fragte er, aus seinem Sinnen erwachend.
»Ja, wenn ich mich langweile, dann lese ich.«
»Was denn?«
»Was mir in die Hand kommt: Erzählungen, oder Tit Nikonytsch bringt uns Journale, dort lese ich die Novellen. Manchmal nehme ich auch eins von Wjerotschkas französischen Büchern vor. Neulich habe ich die ›Helen‹ der Miß Edgeworth gelesen, und dann auch ›Jane Eyre‹. Ein sehr schönes Buch – zwei Nächte lang habe ich nicht geschlafen, sondern immer nur gelesen, gar nicht losreißen konnte ich mich.«
»Welche Art von Büchern liebst du besonders?«
Sie dachte einen Augenblick nach, um die Bücher, die sie gelesen hatte, rasch im Geiste