Die Blinde. Уилки КоллинзЧитать онлайн книгу.
zu reden.
In einem Augenblicke nervöser Aufregung und in reiner Verzweiflung jemanden Anderes zu finden, dem sie sich anvertrauen konnte, hatte das arme, thörichte, einsame, blinde Mädchen mir ihr Herz geöffnet. Was sollte ich thun? Wenn es ein gewöhnlicher Fall gewesen wäre, würde die ganze Angelegenheit einfach lächerlich gewesen sein. Aber Lucilla’s Fall war kein gewöhnlicher. Das Gemüth der Blinden ist durch ihr grausames Schicksal nothwendig nach innen gekehrt. Sie leben ein von dem unsrigen gesondertes, ach wie hoffnungslos gesondertes Leben, in ihrer eigenen dunkeln Welt, von welcher wir nichts wissen. Welchen Trost konnte die äußere Welt Lucilla gewähren? Keinen! Es war eine Folge ihrer traurigen Freiheit, daß sie unablässig ungestört bei dem idealen Geschöpf ihrer eigenen Phantasie verweilen konnte. Innerhalb der engen Grenzen des einzigen Eindrucks, weichen sie von diesem Manne durch die Schönheit seiner Stimme in sich hatte aufnehmen können, konnte ihre Phantasie in dem undurchdringlichen Dunkel ihres Daseins schrankenlos arbeiten. Welch’ ein Bild! Mich schaudert, indem ich es entwerfe. O, ich weiß sehr wolle wie leicht es ist, der Sache eine ganz andere Seite abzugewinnen und über die Thorheit eines Mädchens zu lachen, welches zuerst seine Einbildungskraft mit dem Bilde eines ihr ganz Fremden erhitzt und sich dann, sobald sie ihn sprechen hört, in seine Stimme verliebt! Wenn man aber hinzu nimmt, daß dieses Mädchen blind ist, daß sie auf die Welt ihrer Einbildungskraft angewiesen ist und das sie zu Hause niemanden hat, der einen heilsamen Einfluß auf sie ausüben könnte, wird man auch dann in einem solchen Zustande nichts der Theilnahme Würdiges finden? Was mich betrifft, so fand ich, obgleich ich einer leichtherzigen Nation angehöre, die Alles wegzulachen gewohnt ist, an jenem Abend, als ich mich bei meiner Nachttoilette im Spiegel sah, mich entsetzlich ernst und alt aussehend. Ich sah mein Bett an. Pah! wozu sollte ich zu Bett gehen? Lucilla war ihre eigene Herrin; es stand ihr voll kommen frei, demnächst allein nach Browndown zu gehen und sich in die Gewalt eines möglicher Weise ehrlosen und ränkesüchtigen Menschen zu geben. Wer war ich? Nur ihre Gesellschafterin. Ich hatte kein Recht einzuschreiten, und doch würde man mich, wenn irgend etwas vorfallen sollte, tadeln. Es ist leicht, zu sagen, »man hätte etwas thun sollen.« Wen konnte ich um Rath fragen? Die würdige alte Amme war nur eine Dienerin. Konnte ich mich an die lymphatische Dame mit dem Baby in der einen und dem Roman in der andern Hand wenden? Alberner Gedanke! An ihre Stiefmutter durfte ich nicht denken. Und ihr Vater? Nach dein, was ich bis jetzt von ihm gehört, konnte ich keine günstige Meinung von der Fähigkeit des Ehrwürdigen Finch haben, in einer Angelegenheit dieser Art erfolgreich einzuschreiten. Gleichviel, er war doch ihr Vater, und ich konnte es immerhin einmal mit ihm versuchen. Als ich Zillah’s Fußtritte draußen auf dem Corridor vernahm, ging ich zu ihr hinaus.
Im Laufe einer kleinen Unterhaltung gedachte ich beiläufig des Herrn vom Hause Wie kam es, daß ich ihn noch nicht gesehen hatte? Das hatte den sehr triftigen Grund, daß er zum Besuch eines Freundes nach Brighton gegangen war. Es war Dienstag und er wurde am »Predigttage,« das heißt am Sonnabend derselben Woche zurück erwartet. Ich kehrte etwas aufgeregt in mein Zimmer zurück. In diesem Zustande pflegt mein Geist mit wunderbarer Freiheit zu arbeiten. Ich hatte wieder eine Inspiration. Herr Dubourg hatte sich heute Abend die Freiheit genommen, mit mir zu sprechen: Gut. Ich beschloß, am nächsten Tage allein nach Browndown zu gehen und mir die Freiheit zu nehmen, mit Herrn Dubourg zu sprechen. War mir dieser Entschluß nur durch mein Interesse für Lucilla eingegeben, oder hatte meine Neugierde die ganze Zeit über unter der Oberfläche gearbeitet und, mir selbst unbewußt, meine Erwägungen beeinflußt? Ich ging zu Bett, ohne mich das zu fragen. Ich rathe meinen Lesern, sich auch zur Ruhe zu begeben.
Siebentes Kapitel.
Der Mann bei Tageslicht
Als ich an jenem Abende mein Licht aus löschte, beging ich ein Versehen; ich verließ mich darauf, daß, ich am nächsten Morgen zeitig aufwachen würde. Ich hätte Zillah bitten sollen, mich zu wecken.
Es vergingen Stunden, bevor ich die Augen schließen konnte und mein Schlaf war, als er endlich kam, äußerst unruhig bis Tagesanbruch. Da erst schlief ich fest ein. Als ich wieder aufwachte und nach meiner Uhr sah, fand ich zu meinem Schrecken, daß es bereits zehn Uhr sei.
Ich sprang aus dem Bette und klingelte der alten Amme. Ich fragte sie, ob Lucilla zu Hause sei.
Nein, lautete die Antwort, sie sei ein wenig spazieren gegangen
»Allein?«
»Ja, allein«
»Wohin ist sie gegangen?«
»Ja der Richtung des Thales von Browndown zu.«
Ich zog sofort meine Schlüsse.
Dank meiner Trägheit, welche mich die kostbaren Morgenstunden im Bette hatte verschlafen lassen, war Lucilla mir zuvorgekommen. Das einzige, was mir zu thun übrig blieb, war, ihr so rasch wie möglich zu folgen. Eine halbe Stunde später machte ich allein einen kleinen Spaziergang, und nahm ebenfalls meinen Weg in der Richtung des Thales von Browndown zu.
Ländliche Stille herrschte rund um das kleine einsame Haus. Ich ging an demselben vorüber und bog in die nächste Windung des Thales ein. Kein menschliches Wesen war zu sehen. Ich kehrte um und ging wieder nach Browndown, um zu recognosciren. Ich stieg die Anhöhe hinan, auf welcher das Häuschen lag, und näherte mich demselben von der Rückseite her. Alle Fenster standen offen; ich horchte. Denke niemand, daß ich dabei irgend welche Scrupel empfand. Nur eine Thörin hätte bei einer solchen Gelegenheit etwas derart empfinden können. Ich horchte mit beiden Ohren, durch ein Fenster an der Seite vernahm ich den Klang von Stimmen. Ich trat geräuschlos auf dem Rasen näher und hörte Dubourgs Stimme. Eine Frauen stimme antwortete ihm. Aha, ich hatte sie also ertappt.
»Wunderbart« hörte ich ihn sagen. »Ich glaube, Sie haben Augen in Ihren Fingerspitzen. Nehmen Sie jetzt einmal dies in die Hand und versuchen Sie ob Sie mir sagen können, was es ist.«
»Eine kleine Vase,« antwortete sie in so ruhigem Tone, als ob sie ihn seit Jahren gekannt hätte. »Warten Sie, lassen Sie mich fühlen, was für Metalles ist. Silber? Nein, Gold .Haben Sie diese Vase wirklich auch selbst gemacht wie den Kasten.«
»Ja Eine sonderbare Liebhaberei, nicht wahr getriebene Arbeiten in Gold und Silber zu machen. Vor Jahren traf ich in Italien einen Mann, der mich diese Kunst lehrte. Es machte mir damals Vergnügen und macht mir noch heute Vergnügen. Als ich im vorigen Frühjahr in der Reconvalescenz von einer Krankheit war, verfertigte ich diese Vase aus dem Metall und versah sie mit den darauf befindlichen Ornamenten.
»Da ist mir also wieder ein Geheimniß enthüllt,« rief sie aus. »Jetzt weiß ich, wozu Sie sich jene Gold – und Silberplatten aus London haben kommen lassen. Wissen Sie auch, in welchem Ruf Sie hier stehen? Es giebt hier Leute, die Sie im Verdacht haben, ein Falschmünzer zu sein!«
Beide brachen wie muntere Kinder in ein lautes Lachen aus. Ich muß bekennen, ich wünschte auch im Zimmer zu sein. Aber nein, ich hatte meine Pflicht als respectable Frau zu erfüllen. Meine Pflicht war mich noch etwas näher an das Fenster heranzuschleichen und zu sehen, ob irgend welche Vertraulichkeiten zwischen diesen beiden jungen munteren Leuten gewechselt würden. Die eine Hälfte des offenen Fensters war durch eine Jalousie geschützt. Ich stellte mich hinter die Jalousie und guckte hinein. O Pflicht, peinliche, aber nothwendige Pflicht! Dubourg saß, den Rücken gegen das Fenster gekehrt, Lucilla stand ihm gegenüber und kehrte mir ihr Gesicht zu. Ihre Wangen glühten vor Vergnügen; in ihrer Hand hielt sie die hübsche kleine goldene Vase. Ihre gewandten kleinen Finger fuhren rasch über die selbe hin, gerade wie sie am Abend vorher über mein Gesicht gefahren waren.
»Soll ich Ihnen das Muster aus Ihrer Vase beschreiben?« fuhr sie fort.
»Können Sie das wirklich?«
»Urtheilen Sie selbst. Das Muster besteht aus Blättern, auf denen in gewissen Zwischenräumen Vögel sitzen. Warten Sie, mich dünkt ich habe solche Blätter schon einmal an der Mauer des alten Theils des Pfarrhauses gefühlt. Epheu?«
Erstaunlich; es sollen wirklich Epheublätter sein.«
»Aber die Vögel,« nahm sie wieder auf, »ich werde mich nicht beruhigen, bis ich Ihnen auch gesagt habe, was es für Vögel sind. Habe ich nicht ganz ähnliche Vögel von Silber, nur viel größer, weil sie als Behälter für Pfeffer,