Die Blinde. Уилки КоллинзЧитать онлайн книгу.
als die besonnene fremde Dame, welche darauf bestanden hatte, Nachforschungen anzustellen. Ueberdies war es für mich eine Ehrensache, in einem Briefe, den ich für eine Blinde schrieb, an dem, was mir dictirt wurde, kein Wort zu ändern. Als der Brief fertig war, schrieb ich die Adresse des Hauses in Brighton, in welchem sich Herr Finch damals gerade aufhielt und wollte eben das Couvert schließen, als mich Lucilla zurückhielt.
»Warten Sie einen Augenblick,« sagte sie, »schließen Sie den Brief noch nicht.«
Ich begriff nicht recht, warum ich das Couvert noch offen lassen sollte und warum Lucilla ein wenig verlegen aussah, als sie mir untersagte, den Brief zu schließen, Ich erhielt bald einen neuen unerwarteten Aufschluß über den Einfluß, den Blindheit auf die von ihr Betroffenen übt. – Nachdem wir miteinander Rath gehalten hatten, waren wir übereingekommen, daß ich Frau Finch von der Aufklärung des Geheimnisses in Browndown benachrichtigen solle. Lucilla gestand offen, daß sie keinen besonderen Geschmack an der Gesellschaft ihrer Stiefmutter finde, und ebenso wenig an der jedem sich lange bei dieser fruchtbaren Dame Aufhaltenden, unvermeidlich obliegenden Verpflichtung, ihr Schnupftuch aufzuheben oder ihr Baby zu halten. Ich erhielt einen Schlüssel zu der Verbindungsthür zwischen den beiden Theilen des Hauses und ging fort. Ehe ich meinen Auftrag ausrichtete, ging ich einen Augenblick in mein Schlafzimmer, um meinen Hut und meinen Sonnenschirm wegzulegen. Als ich wieder an der Thür des Wohnzimmers vorüberkam, fand ich, daß dieselbe von Jemandem, der das Zimmer nach mir betreten hatte angelehnt gelassen war und hörte ich Lucilla sagen: »Nimm den Brief aus dem Couvert und lies ihn mir vor.«
Ich ging weiter über den Corridor an der Thür vorüber, sehr langsam, wie ich bekennen muß, und hörte, wie die alte Amme Lucilla die ersten Sätze des Briefes, den ich unter ihrem Dictat geschrieben hatte, laut vorlas. Der unüberwindliche Argwohn der Blinden, welche, in fortwährendem Mißtrauen gegen die Personen um sie her, immer fürchten, von einem der Glücklichen, die sehen können betrogen zu werden, hatte Lucilla getrieben, mich, selbst in einer so geringfügigen Angelegenheit, wie dieser Brief es war, hinter meinem Rücken aus die Probe zu stellen. Sie bediente sich Zillahs Augen, um sich zu vergewissern, daß ich wirklich Alles, was sie dictirt hatte, geschrieben habe, gerade wie sie sich bei vielen späteren Gelegenheiten meiner Augen bediente, um sich zu vergewissern, daß Zillah Aufträge zu häuslichen Besorgungen pünktlich ausgeführt habe. Keine noch so lange Erfahrung von der treuen Ergebenheit derer, welche mit ihnen leben, beruhigt die Blinden ganz.
Wie traurig muß es sein, in ewiger Finsterniß zu leben!
In dem Augenblick, wo ich die Verbindungsthür öffnete, war es, als hätte ich gleichzeitig alle Thüren der Schlafzimmer im Pfarrhause geöffnet.
Kaum hatte ich den Vorplatz betreten, als die Kinder aus einem Zimmer nach dem anderen wie Kaninchen aus ihren Höhlen hervor huschten.
»Wo ist Eure Mama?« fragte ich.
Die Kaninchen antworteten mir mit einem allgemeinen Gekreisch und huschten wieder in ihre Höhlen zurück.
Ich ging die Treppe hinunter, um mein Glück im Erdgeschoß zu versuchen. Aus dem Fenster des Treppenabsatzes hatte man eine Aussicht auf den Vordergarten. Ich sah hinaus und erblickte unsere kleine Zigeunerin, die pausbackige Jicks, ganz allein im Garten umherstreifen, offenbar um die nächste Gelegenheit zu erspähen, wo sie sich ungesehen davonmachen könnte.
Dieses merkwürdige kleine Geschöpf machte sich nichts aus der Gesellschaft der andern Kinder. Zu Hause pflegte sie nachdenklich in einer Ecke des Zimmers zu sitzen und ihre Mahlzeiten, wenn irgend möglich, auf dem Fußboden zu nehmen. Außerhalb des Hauses streifte sie umher bis ihre Kräfte erschöpft waren, und legte sich dann wie ein kleines Thier an die erste beste Stelle zum Schlafen. Sie blickte zufällig auf, während ich am Fenster stand. Als sie meiner ansichtig wurde, deutete sie mit der Hand nach der Pforte des Pfarrhauses. »Was giebts?« fragte ich. Die kleine Zigeunerin antwortete: »Jicks will da hinaus.«
In demselben Augenblick benachrichtigte mich das Geschrei eines Baby von unten her, daß ich mich in nächster Nähe von Frau Finch befinde. Ich ging dem Geschrei nach, bis ich an die Schwelle einer offenstehen den großen Speisekammer am äußersten Ende des Vorplatzes gelangte. In der Mitte der Kammer saß Frau Finch, damit beschäftigt, der Köchin Haushaltsgegenstände zu verabreichen. Dieses Mal war sie mit einem Unterrock begleitet und in einen Shawl gehüllt, und hatte das Baby und den Roman, flach auf dem Rücken liegend, auf dem Schoß.
»Acht Pfund Seife? Ich möchte wohl wissen, wo das Alles bleibt!« stöhnte Frau Finch unter dem Accompagnement des schreienden Baby’s. »Fünf Pfund Soda für das Waschhaus? Man sollte glauben, wir besorgten die Wäsche für das ganze Dorf. Sechs Pfund Lichte? Sie müssen die Lichte essen wie die Russen; wer hat je gehört, daß man sechs Pfund Lichte in einer Woche verbrennt? Zehn Pfund Zucker? Wer bekommt denn all’ den Zucker? Ich nehme nie Zucker, ich bekomme das ganze Jahr keinen Zucker zu kosten. Vergeudung, nichts als Vergeudung!« Bei diesen Worten blickte Frau Finch nach der Thür und wurde meiner ansichtig. »O, Madame Pratolungo! Wie geht es Ihnen? Gehen Sie nicht fort; ich bin gerade fertig. Eine Flasche Wichse? Meine Schuhe sehen ja aus, daß es eine Schmach für das ganze Haus ist. Fünf Pfund Reis? Wenn ich indische Dienstboten hätte, würden fünf Pfund Reis ein Jahr lang für dieselben ausreichen. Hier, bringen Sie die Sachen nach der Küche. Entschuldigen Sie meinen Anzug, Madame Pratolungo. Wie soll ich mich anziehen, bei Allem was ich zu thun habe? Wie sagen Sie? Meine Zeit muß sehr in Anspruch genommen sein? Ach, das ist es ja gerade! Wenn man des Morgens eine halbe Stunde verloren hat und sie nicht wieder einbringen kann, nicht zu gedenken des Ausgebens in der Speisekammer und des Verspätens des Mittagessens für die Kinder und des verdrießlichen Baby’s, so zieht man rasch einen Unterrock an, wirft sich einen Shawl über und läßt die Dinge gehen wie sie gehen wollen. Wo mag nur mein Schnupftuch geblieben sein? Hatten Sie wohl die Güte, zwischen den Flaschen hinter Ihnen nachzusehen? O, hier ist es schon; das Baby liegt darauf. Darf ich Sie bitten, mir das Buch einen Augenblick zu halten? Ich glaube das Baby wird ruhiger sein, wenn ich es anders herumliege.«
Bei diesen Worten legte Frau Finch das Baby auf den Bauch und klopfte es weidlich auf den Rücken Aber der nicht zu beschwichtigende Säugling schrie nur um so lauter. Seine Mutter schien dieses Geschrei durchaus nicht zu rühren. Die resignirte häusliche Märtyrerin blickte ruhig zu mir auf, während ich, den Roman in der Hand, fassungslos vor ihr stand.
»O, das ist eine sehr interessante Geschichte,« fuhr sie fort. »Es kommt natürlich sehr viel Liebe darin vor. Sie kommen deshalb her, nicht wahr? Ich erinnere mich, ich versprach gestern, Ihnen das Buch zu leihen.«
Noch ehe ich antworten konnte erschien die Köchin, wieder, um sich noch weitere Haushaltungsgegenstände zu holen. Frau Finch wiederholte die Forderungen der Köchin eine nach der anderen in Tönen der Verzweiflung.
»Noch eine Flasche Essig? Ich glaube Sie begießen den Garten mit Essig. Noch mehr Stärke? Ich bin überzeugt, daß bei der Wäsche der Königin nicht so viel Stärke wie bei uns verbraucht wird. Sandpapier? Sandpapier wird in diesem verschwenderischen Hause wie Makulatur behandelt. Ich werde es dem Herrn sagen. Wenn es so fortgeht, kann ich wahrhaftig nicht mit meinem Hausstandsgelde auskommen. Gehen Sie nicht fort, Madame Pratolungo, ich werde gleich fertig sein. Wie, Sie müssen fort? O, dann legen Sie, bitte das Buch wieder auf meinen Schoß und werfen Sie doch einmal einen Blick hinter jenen Sack; der erste Band ist heute Morgen da hinuntergefallen und ich habe noch keine Zeit gehabt, ihn wieder aufzuheben. – Sandpapier? Meinen Sie, ich könnte Sandpapier hexen? Haben Sie den ersten Band gefunden? Ach, da ist er! Ganz mit Mehl bedeckt; der Sack wird wohl ein Loch haben. – Zwölf Bogen Sandpapier in einer Woche gebraucht! Wozu? Ich möchte doch wohl wissen wozu? Vergeudung, schmähliche, sündhafte Vergeudung!«
In diesem Stadium von Frau Finchs Gejammer machte ich mich mit dem Buche davon und verschob die Mittheilung in Betreff Oscar Dubourgs auf eine passendere Gelegenheit. Die letzten Worte, die ich beim Hinausgehen noch durch das Geschrei des Baby hindurch vernahm, betrafen noch immer den verschwenderischen Verbrauch von Sandpapier. Vergießen wir eine Thräne über Frau Finchs Leiden und überlassen wir sie ihren Jeremiaden über häusliche Verschwendung in der duftigen Atmosphäre ihrer Speisekammer.
Ich hatte eben Lucilla über das Fehlschlagen meiner Expedition nach dem Vorderhause berichtet, als der Stallknecht