Die Blinde. Уилки КоллинзЧитать онлайн книгу.
kommen, daß er sie mit der Hand erreichen konnte. Wenn einer von uns nur entfernt darauf hindeutete, daß er seine Lieblingsbeschäftigung wieder aufnehmen möchte, hielt er sich die Ohren zu und bat uns inständigst, seine Erinnerungen an die schreckliche Vergangenheit nicht wieder wachzurufen. Er wollte nicht einmal seine Kiste mit Werkzeugen ansehen. Auf unsere Frage, was dieser Zustand zu bedeuten habe, erklärte der Arzt, daß Oscar’s Nervensystem erschüttert sei, und gestand offen, daß dabei nichts zu thun sei, als die Zeit ihren günstigen Einfluß üben zu lassen. Ich für meinen Theil war, wie ich bekennen muß, geneigt, Oscar’ Zustand ziemlich streng zu beurtheilen. Nach meiner Ueberzeugung wäre es seine Pflicht gewesen, sich Zwang anzuthun. Er erschien mir zu indolent, um das seinige zur Besserung seines Zustandes zu thun. Zwischen Lucilla und mir kam es wiederholt zu lebhaften Erörterungen über Oscar. Eines Abends, als wir abwechselnd plaudernd und spielend am Klavier saßen, war sie gründlich böse auf mich, weil ich nicht so unbedingt mit ihrem Liebling sympathisirte wie sie. »Ich habe etwas bemerkt, Madame Pratolungo,« sagte sie erröthend und in gereiztem Tone zu mir, »Sie haben Oscar von Anfang an keine Gerechtigkeit widerfahren lassen.«
Man achte wohl an diese anscheinend unbedeutenden Worte. Die Zeit wird kommen, wo sie uns bedeutungsvoller erscheinen werden.
Die Vorbereitungen für die Hochzeit nahmen ihren Fortgang. Die Advocaten legten ihren Entwurf eines Ehecontracts vor und Osrar schrieb seinem Bruder, um demselben die bevorstehende Veränderung in seinem Leben und die Umstände, welche dieselbe herbeigeführt hatten, mitzutheilen.
Den Ehecontract bekam ich nicht zu sehen, schloß aber aus gewissen Anzeichen, daß Oscars vollkommene Uneigennützigkeit in Geldsachen von seinem künftigen Schwiegervater ausgebeutet worden sei. Der Ehrwürdige Finch hatte, wie mir erzählt wurde, bei der Durchlesung des Documents Thränen vergossen und Lucilla verließ das Studierzimmer ihres Vaters nach dort stattgehabter Unterhaltung in leidenschaftlicherer Entrüstung, als ich sie noch je bei ihr gesehen hatte.
»Fragen Sie mich nicht, was es giebt!« murmelte sie zwischen den Zähnen. »Ich schäme mich, es Ihnen zu sagen.« Als Oscar etwas später zu ihr ins Zimmer trat, fiel sie – fiel sie thatsächlich vor ihm auf die Knie. Ihres ganzen Wesens hatte sich eine so leidenschaftliche Aufregung bemächtigt, daß sie im Augenblick nicht mehr wußte, was sie that. »Ich bete Dich an,« brach sie aus, indem sie seine Hand mit krampfhaften Küssen bedeckte; »Du bist der edelste Mensch auf der Welt. Ich kann nimmermehr Deiner würdig werden.« Die Erklärung dieser überschwenglichen Reden und Handlungen ließ sich nach meiner Ansicht kurz dahin zusammenfassen, daß Oscar’s Geld in die Tasche des Pfarrers fließen und die Tochter des Pfarrers als Mittel dienen sollte, diese Transaction bewerkstelligen.
Die Zeit der Vorbereitungen zur Hochzeit verfloß; Woche auf Woche verging; Alles war längst für die Hochzeit bereit und doch fand die Hochzeit nicht statt. Weit entfernt, wie der Arzt es voraus gesagt hatte, mit Hilfe der Zeit wieder seinen früheren Gesundheitszustand zu erlangen, wurde Oscars Befinden fort während schlimmer. Alle dies Symptome nervöser Aufregung, welche ich bereits früher geschildert habe, traten, anstatt sich zu verlieren, immer stärker bei ihm hervor. Er wurde immer magerer und bleicher. Im Beginn des Monats November mußten wir wieder zum Arzt schicken. Die Frage, welche ihm dieses Mal vorgelegt werden sollte, ging auf Lucilla’s Wunsch da hin, ob nicht eine Luftveränderung angezeigt sei.
Ein Umstand, der mir entfallen ist, verzögerte die Ankunft des Arztes. Oscar hatte den Gedanken, den Arzt an diesem Tage zu sehen, bereits ganz aufgegeben und war zu uns ins Pfarrhaus gekommen, als der Doctor plötzlich an dem Pfarrhause vorüberfuhr. Man hielt ihn an, bevor er nach Browndown weiter fuhr und er hatte eine Besprechung mit seinem Patienten in Lucillas Wohnzimmer.
Lucilla, die mit mir in meinem Schlafzimmer wartete, wurde ungeduldig Sie bat mich, an die Thür des Wohnzimmers zu klopfen und zu fragen, ob sie etwa der Consultation beiwohnen dürfe. Ich fand den Doctor und seinen Patienten am Fenster stehend, in einer ruhigen Unterhaltung begriffen. Offenbar war nichts vorgekommen, was einen von Beiden im Mindesten hätte aufregen können. Oscar sah ein wenig bleich und angegriffen aus, war aber gleich seinem ärztlichen Rathgeber vollkommen ruhig.
»Im nächsten Zimmer,« sagte ich, »ist eine junge Dame, welche sehr begierig ist, das Ergebniß Ihrer Consultation zu erfahren.«
Der Doctor sah Oscar an und lächelte.
»Wir haben Fräulein Finch in der That nichts mitzutheilen,« sagte er. »Herr Dubourg und ich haben seinen Zustand wieder gründlich durchgesprochen und sind zu keinem neuen Ergebniß gelangt. Sein Nervensystem hat sich nicht so rasch wieder beruhigt, wie ich es erwartet hatte; das thut mir leid, beunruhigt mich aber nicht im Mindesten; bei seinem Alter kann man sicher auf eine völlige Wiederherstellung rechnen. Er muß Geduld haben und die junge Dame muß sich gleichfalls gedulden. Mehr kann ich nicht sagen.«
»Haben Sie etwas dagegen, daß Herr Dubourg eine Luftveränderung versucht?« fragte ich.
»Durchaus nichts. Er kann gehen, wohin er Lust hat und sich die Zeit vertreiben, wie es ihm gut scheint. Sie Alle nehmen Herrn Dubourgs Fall etwas zu ernst. Bis auf eine an und für sich gewiß unangenehme Verstimmung der Nerven fehlt ihm wirklich nichts. Es findet sich keine Spur eines organischen Leidens bei ihm. Der Puls fuhr der Doctor fort, indem er seinen Finger leicht an Oscar’s Handgelenk legte, »ist vollkommen befriedigend. In meinem Leben habe ich keinen ruhigeren Puls gefühlt.«
Während er das sagte, zeigte sich plötzlich auf Oscar’s Gesicht eine schreckliche Verzerrung der Muskeln.
Seine Augen waren widerlich nach oben gerichtet. Sein ganzer Körper verzog sich, wie wenn eine Riesenhand ihn gepackt hätte, vom Scheitel bis zur Zehe nach der rechten Seite hin. Noch bevor ich ein Wort sagen konnte, lag er in Krämpfen am Boden zu den Füßen seines Arztes.
»Guter Gott, was ist das?« rief ich aus.
Der Doktor löste Oscar’s Cravatte und entfernte die Möbel, die sich in seiner Nähe befanden, betrachtete dann einen Augenblick den auf dem Fußboden in Zuckungen daliegenden und sich windenden Mann.
»Können Sie nichts thun?« fragte ich.
Er schüttelte ernst den Kopf. »Nichts.«
»Was ist es denn?«
»Ein epileptischer Zufall.«
Siebzehntes Kapitel.
Der Ausspruch des Arztes
Noch bevor wir ein weiteres Wort hatten wechseln können, betrat Lucilla das Zimmer. Wir sahen einander an. Hätten wir reden können, wir würden in jenem Augenblick, glaube ich, beide gesagt haben:
»Gott sei Dank, daß sie blind ist!«
»Habt Ihr mich Alle vergessen?« fragte sie. »Oscar, wo bist Du? Was sagt der Doctor?«
Sie trat näher heran und würde über den am Boden sich windenden Oscar gestolpert sein, wenn ich nicht meine Hand auf ihren Arm gelegt und sie zurück gehalten hätte.
Plötzlich ergriff sie meine Hand mit der ihrigen. »Sie zittern! Warum zittern Sie?« fragte sie. Ihr feiner Tastsinn ließ sich nicht täuschen; vergebens leugnete ich, daß irgend etwas vorgefallen sei, meine Hand hatte mich verrathen. »Hier ist etwas nicht in Ordnung!« rief sie aus; »Oscar hat mir nicht geantwortet.«
Der Doctor kam mir zu Hilfe
»Es ist durchaus nichts Beunruhigendes,« sagte er. »Herr Dubourg ist nicht ganz wohl.«
Sie wandte sich mit einem plötzlichen Zornesausbruch gegen den Doctor.
»Sie täuschen mich,« rief sie; »ihm ist ein ernster Unfall begegnet; sagen Sie mir die Wahrheit! O, es ist schmachvoll, es ist herzlos von Ihnen beiden, ein unglückliches blindes Geschöpf wie mich zu betrügen!«
Während der Doctor noch zauderte, sagte ich ihr die Wahrheit.
»Wo ist er?« fragte sie, indem sie mich an beiden Schultern packte und in ihrer leidenschaftlichen Aufregung schüttelte. Ich flehete sie an, ein wenig zu warten; ich versuchte es, sie zum Niedersetzen auf einen Stuhl zu bewegen; sie aber schob mich mit einer verächtlichen Geberde bei Seite und knieete mit vorgestreckten Händen auf den Fußboden nieder.