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verließ mich. Ich ging sofort in den Kirchhof hinab und stieg über den Tritt, welcher direkt zu Mrs. Fairlie’s Grabe führte.
Das Gras umher war zu kurz und der Boden zu hart, um Fußspuren zu zeigen. Hierin getäuscht, betrachtete ich dann aufmerksam das Kreuz und den viereckigen Marmorblock unter demselben, in welchen die Inschrift gravirt war.
Die natürliche Weiße des Kreuzes hatte hie und da vom Wetter gelitten, und etwas mehr als die Hälfte des Blockes war auf der Seite, welche die Inschrift trug, in demselben Zustande. Die andere Hälfte indessen zog sogleich durch ihre vollkommene Sauberkeit meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich sah näher darauf hin und bemerkte, daß sie gereinigt – ganz kürzlich gereinigt worden war, in einer Richtung von oben nach unten. Die Linie zwischen dem gereinigten und dem nicht gereinigten Theile war an der Stelle zu erkennen, wo die Inschrift den Marmor frei ließ – deutlich als eine Linie zu erkennen, welche durch künstliche Mittel hervorgebracht worden. Wer hatte das Reinigen des Marmors angefangen, und wer hatte es unbeendet gelassen?
Ich schaute umher voll Neugierde, das Räthsel zu lösen. Von der Stelle, an der ich stand, war keine Wohnung zu sehen: der Begräbnißplatz war im ausschließlichen Besitze der Todten. Ich kehrte zur Kirche zurück und ging daran hin, bis ich zur Hinterseite des Gebäudes kam; dann stieg ich vermittelst eines der anderen Tritte über die Grenzmauer und fand mich am Eingange eines Pfades, welcher zu einem verlassenen Steinbruche führte. Gegen die eine Seite dieses Steinbruches lehnte sich eine kleine zweistubige Wohnung; und vor der Thür war eine alte Frau mit Wäsche beschäftigt.
Ich ging zu ihr heran und fing eine Unterhaltung über die Kirche und den Begräbnißplatz an. Sie ging bereitwillig genug darauf ein, und gleich die ersten Worte, die sie sprach, unterrichteten mich, daß ihr Mann das Amt des Küsters und Todtengräbers innehabe. Ich sagte dann ein paar lobende Worte in Bezug auf Mrs. Fairlie’s Monument. Die alte Frau schüttelte den Kopf und sagte mir, ich hätte es in keinem vortheilhaften Zustande gesehen. Es wäre ihres Mannes Geschäft, danach zu sehen, aber er sei schon seit vielen Monaten so schwächlich und unwohl, daß er nur mit der größten Anstrengung im Stande gewesen, Sonntags nach der Kirche zu schleichen, um sein Amt zu verrichten, und das Monument sei in Folge dessen etwas vernachlässigt. Er sei jetzt etwas in der Besserung und hoffe, in einer Woche oder zehn Tagen kräftig genug zu sein, um sich daran zu machen und es zu reinigen.
Dieser Bericht – den ich aus einer langen, weitschweifigen Antwort im breitesten cumberländischen Dialekte herauszuschälen hatte – sagte mir Alles, was ich besonders zu wissen wünschte. Ich gab der armen Frau eine Kleinigkeit und kehrte sofort nach Limmeridge House zurück.
Die theilweise Säuberung des Monumentes war also offenbar durch eine fremde Hand geschehen. Indem ich das, was ich bis hierher entdeckt hatte, mit dem zusammenhielt, was ich geargwöhnt, als ich von dem Erscheinen des Gespenstes im Zwielichte gehört hatte, bedurfte es weiter Nichts, meinen Entschluß, heute Abend heimlich Mrs. Fairlie’s Grab zu bewachen, zu befestigen; ich beschloß, um Sonnenuntergang dorthin zurückzukehren und im Gesichtskreise desselben bis Einbruch der Nacht zu warten. Die Säuberung des Monumentes war unbeendet geblieben, und die Person, welche sie angefangen, mochte vielleicht zurückkehren, um sie zu beenden.
Als ich im Hause anlangte, unterrichtete ich Miß Halcombe von dem, was ich zu thun beabsichtigte. Sie sah überrascht und beunruhigt aus, während ich ihr meine Absicht erklärte; aber sie machte keinen entschiedenen Einwurf gegen die Ausführung desselben. Sie sagte nur, »ich hoffe, es mag glücklich enden«. Gerade als sie mich wieder verließ, hielt ich sie zurück, um sie so ruhig, als es mir möglich war, nach Miß Fairlie’s Befinden zu fragen. Sie war weniger traurig und Miß Halcombe hoffte es über sie zu vermögen, daß sie sich ein wenig Bewegung in freier Luft mache, solange die Nachmittagssonne scheine.
Ich kehrte auf mein Zimmer zurück, um mit dem Ordnen der Zeichnungen fortzufahren. Es war nothwendig, daß ich dies that, und doppelt nothwendig, damit ich meinen Geist mit irgend etwas beschäftigte, das meine Aufmerksamkeit von mir selbst und von der hoffnungslosen Zukunft abzöge, die vor mir lag. Von Zeit zu Zeit hielt ich in meiner Arbeit inne, um aus dem Fenster zu schauen und den Himmel zu beobachten, als die Sonne tiefer und tiefer zum Horizont hinabsank. Bei einer solchen Gelegenheit erblickte ich auf dem breiten Kieswege unter meinem Fenster eine Gestalt. Es war Miß Fairlie. –
Ich hatte sie seit dem Morgen nicht gesehen und selbst da fast kein Wort mir ihr gesprochen. Es blieb mir nur noch ein Tag in Limmeridge und nach diesem Tage sollten meine Augen sie vielleicht nie wieder sehen. Dieser Gedanke genügte, um mich am Fenster festzuhalten. Ich war rücksichtsvoll genug gegen sie, um die Vorhänge so zurecht zu schieben, daß sie mich nicht sehen konnte, falls sie hinaufblicken sollte; aber ich hatte nicht die Kraft, der Versuchung zu widerstehen, ihr mit den Augen zu folgen, soweit dies auf ihrem Spaziergange geschehen konnte.
Sie trug einen braunen Mantel und darunter ein einfaches seidenes Kleid. Ihren Kopf bedeckte derselbe runde Strohhut, den sie an jenem Morgen getragen, wo ich sie zum ersten Male gesehen hatte. Es war jetzt ein Schleier daran befestigt, welcher mir ihr Gesicht verbarg. Neben ihr lief ihr kleines italienisches Windspiel, der Gefährte all ihrer Spaziergänge, der eine schöne, scharlachrothe Tuchdecke trug, um seine zarte Haut gegen die rauhe Luft zu schützen. Sie schien den Hund nicht zu bemerken, sondern ging gerade aus, den Kopf ein wenig gesenkt und die Arme unter dem Mantel verschlungen. Die welken Herbstblätter, welche im Winde vor mir gerauscht hatten, als ich am Morgen von ihrer Heirat hörte, rauschten jetzt im Winde vor ihren Füßen, als sie in dem matten, erblassenden Sonnenlichte dahin ging. Der kleine Hund schauerte zusammen und zitterte und drängte sich an ihr Kleid, damit sie ihn bemerke und ermuntere. Aber sie ließ ihn unbeachtet. Sie ging dahin, immer weiter fort von mir, und die welken Blätter rauschten auf ihrem Pfade um sie her – sie ging dahin, bis meine wehen Augen sie nicht mehr sahen, und ich wieder allein war mit meinem schweren Herzen.
Eine Stunde später war ich mit meiner Arbeit zu Ende, und die Sonne neigte sich zum Untergange. Ich holte mir meinen Hut und Ueberrock aus der Vorhalle und schlüpfte aus dem Hause, ohne Jemandem zu begegnen.
Die Wolken standen drohend am westlichen Himmel und ein kalter Wind blies vom Meere her. Ungeachtet der Entfernung des Meeresufers, strich doch das Getöse der Brandung über das Heideland herüber und schlug düster an meine Ohren, als ich in den Kirchhof trat. Kein lebendes Wesen war zu sehen. Der Ort sah verlassener aus denn je, als ich meine Stellung einnahm, in der ich beobachtend verharrte, die Augen auf das weiße Kreuz über Mrs. Fairlie’s Grabe geheftet.
XII
Die offene Lage des Kirchhofes hatte mich genöthigt, die Wahl meines Beobachtungspostens mit Umsicht zu treffen.
Der Haupteingang zur Kirche war auf der Seite des Begräbnißplatzes und die Thür durch eine mit einer Mauer umgebene Vorhalle verborgen. Nach kurzem Zögern, das aus einem natürlichen Widerwillen, mich zu verstecken, entsprang, wie unvermeidlich dies Verstecken auch bei dem Zwecke, den ich im Auge hatte, sein mochte, beschloß ich, in diese Vorhalle zu treten. In jeder der Seitenmauern war ein rundes Fenster. Durch das eine derselben konnte ich Mrs. Fairlie’s Grab sehen. Das andere ging nach dem Steinbruch hin, wo die Hütte des Todtengräbers stand. Vor mir, dem Eingange der Vorhalle gegenüber, lag ein Stück kahlen Begräbnißbodens, ein Ende von der niedrigen Steinmauer und ein Streifen des einsamen braunen Hügels, über den die Sonnenuntergangswolken schwer vor dem starken Winde dahinstrichen. Kein lebendes Wesen war zu hören oder zu sehen – kein Vogel flog vorüber; kein Hund bellte in des Todtengräbers Hütte. Die Pausen in dem dumpfen Tosen der Brandung füllte das trübe Rauschen der kleinen Bäume neben dem Grabe und das kalte, schwache Murmeln des Baches, wie er in seinem steinernen Bette dahinkroch. Ein düsterer Ort und eine düstere Stunde. Mein Geist wurde trauriger, als ich in meinem Verstecke in der Vorhalle der Kirche die langen Minuten des Abends zählte.
Es war noch nicht im Halbdunkel – das Licht der untergehenden Sonne zögerte noch am Himmel, und wenig über eine halbe Stunde war verflossen, nachdem ich meinen Posten eingenommen hatte, als ich Schritte und eine Stimme hörte. Die Schritte kamen von der entgegengesetzten Seite der Kirche, und die Stimme war eine weibliche.
»Sorge Du Dich nicht um den Brief, mein liebes Kind,« sagte die Stimme. »Ich habe ihn sicher in