Die Frau in Weiss. Уилки КоллинзЧитать онлайн книгу.
hatte; selbst mein geheimnisvolles Abenteuer auf meinem Heimwege von Hampstead: das Alles waren Begebenheiten geworden, die sich möglicherweise zu einer früheren Epoche meines Lebens zugetragen haben konnten. Obgleich die Frau in Weiß noch in meiner Erinnerung war, schien doch ihr Bild bereits undeutlicher geworden zu sein. –
Kurz vor neun Uhr ging ich ins Erdgeschoß hinunter. Der feierliche Diener vom vorigen Abend begegnete mir, wie ich in den Gängen umherwandelte, und zeigte mir voll Menschenfreundlichkeit den Weg nach dem Frühstückszimmer.
Der erste Blick, den ich um mich warf, als der Mann die Thür wieder hinter mir schloß, zeigte mir einen wohl besetzten Frühstückstisch, der in der Mitte eines langen Zimmers mit vielen Fenstern stand. Ich blickte vom Tische nach dem am weitesten von mir entfernten Fenster und sah an demselben eine Dame stehen, mit dem Rücken mir zugewandt. Sowie ich sie erblickte, frappirten mich die seltene Schönheit ihrer Gestalt und die ungekünstelte Anmuth ihrer Haltung. Ihre Figur war groß, doch nicht zu groß, von hübsch und wohl entwickelten, doch nicht allzu starken Formen; ihr Kopf saß mit einer ungezwungenen, biegsamen Festigkeit auf ihren Schultern; ihre Taille, vollkommen in den Augen eines Mannes – denn sie nahm ihre natürliche Stelle ein – füllte ihren natürlichen Zirkel aus und – was deutlich und reizend sichtbar war – ward nicht durch ein Schnürleibchen entstellt. Sie hatte mein Eintreten ins Zimmer nicht gehört, und ich gewährte mir den Genuß, sie einige Augenblicke zu bewundern, ehe ich als das am wenigsten in Verlegenheit setzende Mittel, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, einen der mir zunächst stehenden Stühle rückte. Sie wandte sich augenblicklich zu mir um; die unbefangene Anmuth jeder Bewegung ihrer Glieder und ihres Körpers, als sie von dem anderen Ende des Zimmers zu mir kam, machte mich förmlich zittern vor Erwartung, ihr Gesicht deutlich zu sehen. Sie verließ das Fenster – und ich sagte zu mir selbst: die Dame ist brünett. Sie ging ein paar Schritte vorwärts – und ich bemerkte, daß sie jung war. Sie kam näher – und ich sagte zu mir (mit einem Gefühle der Ueberraschung, das ich nicht mit Worten zu beschreiben vermag): die Dame ist – häßlich!
Noch nie wurde die alte conventionelle Maxime, daß die Natur nicht irren kann, vollständiger widerlegt – noch nie das Versprechen einer reizenden Gestalt seltsamer und überraschender durch das dazu gehörende Haupt und Antlitz Lügen gestraft. Die Hautfarbe der Dame war beinahe braun und der dunkle Flaum auf ihrer Oberlippe beinahe ein andalusisches Bärtchen, sie hatte einen großen, festen, männlichen Mund und Unterkiefer; hervorstehende, scharfe, entschlossene, braune Augen und dickes kohlschwarzes Haar, das ihr ungewöhnlich tief in die Stirn wuchs. Der Ausdruck ihres Gesichtes, der klar, offen und intelligent war, schien, wenn sie schwieg, gänzlich jenes weiblichen Reizes der Sanftheit und Schmiegsamkeit zu entbehren, ohne welchen die Schönheit des schönsten Weibes der Welt eine unvollkommene ist. Ein solches Gesicht auf Schultern zu sehen, die ein Bildhauer sich gesehnt haben würde abzubilden – von der bescheidenen Anmuth der Glieder, die ihre durch Ebenmaß ausgezeichnete Schönheit in jeder Bewegung verriethen, bezaubert und dann von der männlichen Form und dem männlichen Ausdrucke der Züge, in welchen der vollkommen gebildete Körper endete, beinahe abgestoßen zu werden, verursachte ein Gefühl, das eine unheimliche Aehnlichkeit mit dem hilflosen Verdrusse hat, den wir Alle kennen, wenn wir im Schlafe die Anomalien und Widersprüche unserer Träume erkennen und doch nicht begreifen können.
»Mr. Hartright?« sagte die Dame in fragendem Tone, und sowie sie sprach, erhellte sich ihr dunkles Gesicht durch ein Lächeln und wurde sanft und weiblich. »Wir gaben gestern Abend alle Hoffnung auf, Sie noch zu sehen, und gingen daher zur gewöhnlichen Zeit schlafen. Entschuldigen Sie unseren scheinbaren Mangel an Aufmerksamkeit und erlauben Sie mir, mich Ihnen als eine Ihrer künftigen Schülerinnen vorzustellen. Wollen wir einander die Hände geben? Früher oder später wird es doch vermuthlich dahin kommen – und warum da nicht früher?«
Diese seltsamen Worte des Willkommens wurden mit einer klaren, wohlklingenden, angenehmen Stimme gesprochen. Die dargebotene Hand – ziemlich groß, aber wunderschön geformt – wurde mir mit dem unbefangenen, ungekünstelten Selbstvertrauen einer vornehmen Dame gegeben, wir setzten uns so herzlich und bekannt an den Frühstückstisch, als ob wir einander seit Jahren gekannt hätten und auf Verabredung in Limmeridge House zusammengetroffen seien, um uns von alten Zeiten zu unterhalten.
»Ich hoffe, Sie kommen mit dem freundlichen Entschlusse zu uns, mit Ihrer Lage vorlieb zu nehmen,« fuhr die Dame fort. »Sie werden heute Morgen den Anfang damit machen müssen, indem Sie sich es am Frühstückstische an meiner Gesellschaft allein genügen sollen. Meine Schwester ist auf ihrem Zimmer und pflegt sich in jener wesentlich weiblichen Krankheit, einem leichten Kopfweh, und ihre alte Gouvernante, Mrs. Vesey, leistet ihr darin mit belebendem Thee barmherzigen Beistand. Mein Onkel, Mr. Fairlie, nimmt keine der Mahlzeiten in unserer Gesellschaft ein; er ist ein Invalide und hält seinen Junggesellenhofstaat in seinen eigenen Gemächern. Sonst ist außer mir Niemand im Hause. Es waren zwei junge Damen zum Besuch hier, doch sie verließen uns gestern in Verzweiflung, und das ist nicht zum Verwundern. Während der ganzen Dauer ihres Besuches boten wir ihnen (in Folge Mr. Fairlie’s schwachen Gesundheitszustandes) nicht die Annehmlichkeit eines männlichen Wesens, mit dem sie hätten coquettiren, tanzen und plaudern können, und die Folge davon war, daß wir Nichts thaten als streiten, besonders bei Tische. Wie kann man verlangen, daß vier Frauenzimmer alle Tage zusammen zu Mittag speisen, ohne zu streiten. Wir sind solche einfältige Wesen, daß wir einander nicht bei Tisch unterhalten können. Sie sehen, daß ich nicht viel von meinem Geschlechte halte, Mr. Hartright – was wollen Sie trinken, Thee oder Kaffee? – kein weibliches Wesen hält viel vom eigenen Geschlechte, obgleich wenige dies so offen gestehen, wie ich … Ach Gott! Sie sehen verlegen aus. Warum? Ueberlegen Sie, was Sie zum Frühstück essen wollen? oder sind Sie über meine unbekümmerte Art zu sprechen erstaunt? Im ersteren Falle rathe ich Ihnen als Freundin, sich nicht mit dem kalten Schinken abzugeben, der neben Ihnen steht, und zu warten, bis die Omelette kommt. Im zweiten will ich Ihnen eine Tasse Thee geben, um Ihr Gemüth zu beruhigen, und Alles zu thun, was eine Frau nur immer kann (was, beiläufig gesagt, sehr wenig ist), um den Mund zu halten.«
Sie reichte mir mit fröhlichem Lachen eine Tasse Thee. Ihr leichter Redefluß wie ihre lebhafte Vertraulichkeit gegen einen völlig Fremden waren von einer ungekünstelten Natürlichkeit und einem angeborenen unbefangenen Selbstvertrauen zu sich und ihrer Stellung begleitet, die ihr die Achtung des verwegensten Mannes von der Welt gesichert hätten. Ebenso unmöglich wie es war, förmlich und zurückhaltend in ihrer Gesellschaft zu sein, ebenso unmöglich wäre es gewesen, sich auch nur in Gedanken den kleinsten Schatten einer Freiheit herauszunehmen. Ich empfand dies instinctmäßig, schon während ich mich durch ihre Munterkeit angesteckt fühlte – indem ich mein Möglichstes that, ihr auf ihre eigene offene, lebhafte Manier zu antworten.
»Ja, ja,« sagte sie, als ich ihr mein verblüfftes Aussehen auf die einzig mögliche Art erklärt hatte; »ich begreife, Sie sind so vollkommen fremd im Hause, daß meine familiären Anspielungen auf seine würdigen Bewohner Sie verwirren. Ganz natürlich – ich hätte das früher bedenken sollen. Jedenfalls kann ich die Sache jetzt wieder gutmachen. Wie wär’s, finge ich mit nur selbst an, um desto schneller mit dem Theile des Gegenstandes fertig zu werden? Ich heiße Marianne Halcombe und bin so ungenau, wie Frauen es gewöhnlich sind, wenn ich Mr. Fairlie meinen Onkel, und Miß Fairlie meine Schwester nenne. Meine Mutter war zweimal verheiratet: das erste Mal mit Mr. Halcombe, meinem Vater, das zweite Mal mit Mr. Fairlie, dem Vater meiner Halbschwester. Außer darin, daß wir beide Waisen sind, gleichen wir einander so wenig wie möglich. Mein Vater war ein armer, und Miß Fairlie’s Vater ein reicher Mann. Ich besitze gar Nichts, und sie ist eine Erbin. Ich bin brünett und häßlich, und sie ist blond und hübsch. Jedermann findet mich mit vollkommenem Rechte barsch und sonderbar und sie mit noch größerem Rechte freundlich und anmuthig. Kurz, sie ist ein Engel, und ich – kosten Sie doch diese Marmelade, Mr. Hartright, und beendigen Sie selbst meinen Satz im Namen weiblicher Schicklichkeit. Was soll ich Ihnen über Mr. Fairlie erzählen? Ich weiß es wahrhaftig kaum. Er wird Sie ganz sicher nach dem Frühstücke zu sich bitten lassen, und da können Sie ihn selbst studiren. Unterdessen kann ich Sie unterrichten, daß er erstens des verstorbenen Mr. Fairlie jüngerer Bruder, zweitens unverheiratet und drittens Miß Fairlie’s Vormund ist. Ich will nicht ohne sie, und sie kann ohne mich nicht leben, und das ist der Grund, weshalb ich dazu komme, in Limmeridge House