Gesammelte Werke. Odon von HorvathЧитать онлайн книгу.
Novelle von –« Er stockte wieder, denn es fiel ihm kein Novellist ein und legte wütend los: »Vorgestern habe ich mich rasiert und da habe ich mich furchtbar geschnitten und heute habe ich mich wieder rasiert und habe mich nicht geschnitten! Kennen Sie die Psychoanalyse? Es ist alles Symbol, das stimmt. Wir denken symbolisch, wir können nur zweideutig denken. Zum Beispiel: das Bett. Wenn wir an ein Bett denken, so ist das ein Symbol für das Bett. Verstehen Sie mich? Ich freue mich nur, daß Sie kein Berufsmodell sind. Ich hasse das Schema, ich benötige Individualität! Ich bin nämlich krasser Individualist, hinter mir steht keine Masse, auch ich gehöre zu jener ›unsichtbaren Loge‹ wahrer Geister, die sich über ihre Zeit erhoben und über die gestern in den ›Neuesten‹ ein fabelhaftes Feuilleton stand!«
Und während Agnes ihr Hemd auf das Grammophon legte, verdammte er den Kollektivismus.
20
Manchmal schwätzte AML als wäre er ein Schwätzer. Aber er schwätzte ja nur aus Angst vor einem gewissen Gedanken.–
Sein Vater war Tischlermeister gewesen und AML hatte zu Hause nie ein böses Wort gehört. Er erinnerte sich seiner Eltern als ehrlicher arbeitsamer Menschen und manchmal träumte er von seiner Mutter, einer rundlichen Frau mit guten großen Augen und fettigem Haar. Es war alles so schön zu Hause gewesen und zufrieden. Es ist gut gekocht und gern gegessen worden und heute schien es AML, als hätten auch seine Eltern an das Christkind geglaubt und den Weihnachtsmann. Und manchmal mußte AML denken, ob er nicht auch lieber Tischlermeister geworden wäre mit einem Kind und einer rundlichen Frau mit guten großen Augen und fettigem Haar.
Dieser Gedanke drohte ihn zu erschlagen.
Und um nicht erschlagen zu werden, verkroch er sich vor jedem seiner Gedanken. Wenn er allein im Atelier saß, sprach er laut mit sich selbst, nur um nichts denken zu müssen. Oder er ließ das Grammophon spielen, rezitierte Gedichte, pfiff Gassenhauer und manchmal schrieb er sich sogar selbst Nachrichten auf den Zettel mit der Überschrift: »Raum für Mitteilungen, falls nicht zu Hause.«
Er tat, wie die Chinesen tun, die überall hin Glöcklein hängen, um die bösen Geister zu verscheuchen. Denn die bösen Geister fürchten auch das feinste Geräusch und glotzen uns nur in der Stille an.
Er haßte die Stille.
Etwas in seinem Wesen erinnerte an seinen verstorbenen Onkel August Meinzinger in Graz. Der sammelte Spitzen, hatte lange schmale Ohren und saß oft stundenlang auf Kinderspielplätzen.
Er war ein alter Herr und in seinem Magen wuchs ein Geschwür. Er mußte auf seine Lieblingsknödel verzichten, wurde boshaft und bigott, bedauerte kein Mönch geworden zu sein, las Bücher über die Folterwerkzeuge der Hölle und nahm sich vor, rechtschaffene Taten zu vollbringen; denn er hatte solche Angst vor dem Tode, daß er sich beschiß, wenn er eine Sense sah. Die Hölle, das Magengeschwür und die entschwundenen Lieblingsknödel beunruhigten seine Phantasie.
Einst als AML vier Jahre alt wurde, besuchte Onkel August München. Und da es dämmerte, schlich er an AMLs Bettchen und kniff ihn heimlich blau und grün, weil er eingeschlafen war, ohne gebetet zu haben. Er schilderte ihm die Qualen der Hölle und zitterte dabei vor dem jüngsten Gericht wie ein verprügelter Rattler. Der kleine AML hörte ihm mit runden Augen zu, fing plötzlich an zu weinen und betete. Er wußte zwar nicht, was er daherplapperte und hätte es auch gar nicht begriffen, daß er ein sündiger Mensch ist. Seine Sünden bestanden damals lediglich darin, daß er mit ungewaschenen Händchen in die Butter griff, was ihm wohltat, daß er verzweifelte, wenn der Kaminkehrer kam, in der Nase bohrte und daran lutschte, sich des öfteren bemachte, in den Milchreis rotzte und den Pintscher Pepperl auf den Hintern küßte. Und als AML in die Schule kam, verschied der Onkel August in Graz nach einem fürchterlichen Todeskampfe. Er röchelte zehn Stunden lang, redete wirres Zeug daher und brüllte immer wieder los: »Lüge! Lüge! Ich kenn kein kleines Mizzilein, ich hab nie Bonbons bei mir, ich hab kein Mizzilein in den Kanal gestoßen, Mizzilein ist von selbst ertrunken, allein! Allein! Ich hab ja nur an den Wädelchen getätschelt, den Kniekehlchen! Meine Herren, ich hab nie Bonbons bei mir!« Und dann schlug er wild um sich und heulte: »Auf dem Diwan sitzt der Satan! Auf dem Diwan sitzt noch ein Satan!« Dann wimmerte er, eine Straßenbahn überfahre ihn mit Rädern wie Rasiermesser. Und seine letzten Worte lauteten: »Es ist strengstens verboten mit dem Wagenführer zu sprechen!«
Und des Onkels Seele schwebte himmelwärts aus der steiermärkischen Stadt Graz und mit seinem Geld wurde der Altar einer geräderten heiligen Märtyrerin renoviert und ihr gekröntes Skelett neu vergoldet, denn August Meinzinger hatte tatsächlich sein ganzes Vermögen aus rücksichtsloser Angst vor dem höllischen Schlund in jenen der alleinseligmachenden Kirche geworfen.
Nur seinem Neffen AML hatte er ein silbernes Kruzifixlein hinerlassen, welches dieser fünfzehn Jahre später, 1913, im Versatzamt verfallen ließ, denn er benötigte das Geld für die Behandlung seines haushohen Trippers.
Und kaum war er geheilt, brach der Weltkrieg aus. Er wurde Pionier, bekam in Belgrad das eiserne Kreuz und in Warschau seinen zweiten Tripper.
Und kaum war er geheilt, brach Deutschland zusammen. Und während die Menschen, die weitergehen wollten, erschossen wurden, bekam er seinen dritten Tripper.
Und kaum war er geheilt, trat in Weimar die Nationalversammlung zusammen. Er wurde beherrscht und schwor, sich offiziell zu verloben, um seinen Geschlechtsverkehr gefahrlos gestalten zu können. Er wollte die Tochter eines Regierungsbaumeisters heiraten, es war eine reine Liebe und sie brachte ihm seinen vierten Tripper.
Nun wurde er immer vergeistigter und bildete sich ein, er sei verflucht. Hatte er mal Kopfschmerzen, Katarrh, einen blauen Fleck, Mitesser, Husten, Fieber, Durchfall oder harten Stuhl, immer witterte er irgendeinen mysteriösen Tripper. Er wagte sich kaum mehr einem Weib zu nähern, haßte auch die Muttergottes und wurde Buddhist.
Durch das Mikroskop erblickte er das Kleinod im Lotos.
21
Agnes stand nun vor AML.
Sie hatte nur ihre Strümpfe an und schämte sich, weil der eine zerrissen war, während AML meinte, es wäre jammerschade, daß sie keine Pagenstrümpfe habe. Dann forderte er sie auf, im Atelier herumzugehen. »Gelöst«, sagte er. »Nur gelöst!« Und so gelöst solle sie sich auch setzen, legen, aufstehen, niederknien, kauern, aufstehen, wieder hinlegen, wieder aufstehen, sich beugen und wieder herumgehen – – das hätten nämlich auch die Modelle von Rodin genauso machen müssen. Selbst Balzac hätte vor Rodin vierzehn Tage lang so gelöst herumgehen müssen, bis Rodin die richtige Pose gefunden hätte. Er habe es zwar nicht nötig, dabei Skizzen zu machen, wie jener, er behalte nämlich alle seine Skizzen im Kopf, denn er habe ein gutes Gedächtnis. Damit wolle er sich jedoch keineswegs mit Rodin vergleichen, das wäre ja vermessen, aber er sei halt nun mal so.
Agnes tat alles, was er wollte und wunderte sich über sein sonderbar sachliches Mienenspiel, denn eigentlich hatte sie erwartet, daß er sich ihr nähern werde. Und nun schämte sie sich noch mehr über ihren zerrissenen Strumpf.
Sie erinnerte sich des Fräulein Therese Seitz aus der Schellingstraße. Die war Berufsmodell und hatte ihr mal von einem Kunstmaler erzählt, der behauptet hätte, er könnte sie leider nicht malen, wenn sie sich ihm nicht hingeben wollte und er müßte sie leider hinausschmeißen, das würde er nämlich seiner Kunst schuldig sein.
Endlich fand AML die richtige Pose. Sie hatte sich auf das Sofa gesetzt und lag nun auf dem Bauche. »Halt!« rief er, raste hinter seine Staffelei und visierte: »Jetzt hab ich die Hetäre! Nur gelöst! Gelöst! – – – es ist in die Augen fallend, daß sich die Kluft zwischen dem heutigen Schönheitsideal und jenem der Antike immer breiter auftut. Ich denke an die Venus von Milo.«
Und während AML an Paris dachte, dachte Agnes an sich und wurde traurig, denn: »Was tut man nicht alles