Gesammelte Werke. Odon von HorvathЧитать онлайн книгу.
der ganzen Welt auf einmal überblicken. Ich werd das Geschäftliche mit dem Nützlichen verbinden, sagte er sich.
In dem amtlichen Reisebüro hingen viele Plakate mit Palmen und Eisbergen, und man hatte das Gefühl, als wär man schon nicht mehr in der Schellingstraße.
Fast jeder Beamte schien mehrere Sprachen zu sprechen, und Kobler horchte andächtig. Er stand an dem Schalter »Ausland«.
Vor ihm standen bereits zwei vornehme Damen und ein alter Herr mit einem gepflegten Bart. Die Damen sprachen russisch, sie waren Emigrantinnen. Auch der Beamte war ein Emigrant. Die Damen nahmen ihn sehr in Anspruch; er mußte ihnen sagen, wo gegenwärtig die Sonne scheint, am Lido, in Cannes oder in Deauville. Sie würden zwar auch nach Dalmatien fahren, meinten die Damen, auf die Preise käm's ja nicht an, auch wenn es in Dalmatien billiger wäre.
Der alte Herr mit dem gepflegten Bart war ein ungarischer Abgeordneter. Er nannte sich Demokrat und las gerade in seiner ungarischen Zeitung, daß die Demokratie Schiffbruch erleide, und nickte beifällig.
Die eine Dame streifte Kobler mit dem Blick. Sie streifte ihn sehr schön, und Kobler ärgerte sich, daß er kein Emigrant sei, während sich der bärtige Demokrat über MacDonald ärgerte. Man sollte jeden Demokraten ausrotten, dachte er.
Endlich gingen die beiden Damen. Der Beamte schien sie sehr gut zu kennen, denn er küßte der einen die Hand. Sie kamen ja auch jede Woche und erkundigten sich nach allerhand Routen. Gefahren sind sie aber noch nirgends hin, denn sie kamen mit ihrem Geld grad nur aus. Sie holten sich also jede Woche bloß die Prospekte, und das genügte ihnen. Mit der, deren Hand der Beamte küßte, paddelte er manchmal am Wochenend.
»Ich möchte endlich nach Hajdúszoboszló mit Schlafwagen«, sagte der mit dem Bart ungeduldig und sah den Kobler kriegerisch an. Was hat er nur? dachte Kobler. – Ob das auch ein Demokrat ist? dachte der Demokrat.
»Nach Hajdúszoboszló kann ich Ihnen leider keine Karte geben«, sagte der Beamte. »Ich hab sie nur bis Budapest hier.« »Skandal«, entrüstete sich der Bart. »Ich werde mich bei meinem guten Freunde, dem königlich ungarischen Handelsminister, beschweren!« »Ich bin Beamter«, sagte der Beamte. »Ich tu meine Pflicht und kann nichts dafür. Welche Klasse wollen Sie?«
Der mit dem Bart sah ihn unsagbar wehmütig und gekränkt an. »Erster natürlich«, nickte er traurig. »Armes Ungarn!« fiel es ihm ohne jeden Zusammenhang ein. Da trat ihm Kobler zufällig auf das Hühnerauge. »Was machen Sie da?!« brüllte der Bart. »Verzeihung«, sagte Kobler. »Also das ist sicher ein Demokrat!« zischte der Demokrat auf ungarisch.
»Bitte, gedulden Sie sich einige Augenblicke, ich muß erst nachfragen lassen, ob es noch Budapester Schlafwagenplätze gibt«, sagte der Beamte und wandte sich dann an Kobler: »Wohin?« »Nach Barcelona«, antwortete dieser, als wär das in der Nachbarschaft. Der Bart horchte auf. Barcelona, überlegte er, war vor Primo de Rivera eine Zentrale der anarchistischen Bewegung. Er ist mir auf das Hühnerauge getreten, und dritter Klasse fährt er auch!
»Barcelona ist weit«, sagte der Beamte, und Kobler nickte; auch der Bart nickte unwillkürlich und ärgerte sich darüber. »Barcelona ist sehr weit«, sagte der Beamte. »Wie wollen Sie denn fahren? Über die Schweiz oder Italien? Sie fahren zur Weltausstellung? Dann passen Sie auf: Fahren Sie hin durch Italien und retour durch die Schweiz. Preis und Entfernung sind egal, ja. Sie fahren hin und her dreiundneunzig Stunden, D-Zug natürlich. Sie brauchen das Visum nach Frankreich und Spanien. Wird besorgt! Nach Österreich, Italien und Schweiz brauchen Sie kein Visum, wird besorgt! Wenn Sie hier abfahren, sind Sie an der deutschen Grenze um 10.32 und in Innsbruck um 13.05. Ich schreib's Ihnen auf. Ab Innsbruck 13.28. An Brennero 15.23. Ab Brennero 15.30. An Verona 20.50. Ab Verona 21.44. An Milano 0.13. Ab Milano 3.29. Ab Genova 7.04. An Ventimiglia 11.27. An Marseille 18.40. An spanische Grenze Portbou 5.16. An Barcelona 10.00. Ab Barcelona 11.00.«
Und so schrieb ihm der Beamte auch noch alle Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Rückfahrt auf: Cerbéres, Tarascon, Lyon, Genf, Bern, Basel, und zwar hatte er diese Zahlen alle im Kopf. Also das ist ein Gedächtniskünstler, dachte Kobler. Ein Zirkus!
»Und das kostet dritter Klasse hin und her nur einhundertsiebenundzwanzig Mark vierundfünfzig Pfennig«, sagte der Zirkus.
Hin und her?! Kobler war begeistert.
»Nur? Nicht möglich!« staunte er.
»Doch«, beruhigte ihn rasch der Beamte. »Deutschland ist bekanntlich mit das teuerste europäische Land, weil es den Krieg verloren hat. Frankreich und Italien sind bedeutend billiger, weil sie eine Inflation haben. Nur Spanien und die Schweiz sind noch teurer als Deutschland.«
»Sie vergessen Rumpfungarn«, mischte sich der Bart plötzlich ins Gespräch. »Rumpfungarn ist auch billiger als Deutschland, obwohl es alles im Kriege verloren hat. Es ist zerstückelt worden, meine Herren! Serbien und Kroatien sind dagegen noch billiger als Rumpfungarn, weil Amerika den Krieg gewonnen hat, obwohl militärisch wir den Krieg gewonnen haben!«
»Am Ende ist es anscheinend ganz wurscht, wer so einen Krieg gewinnt«, sagte Kobler. Der Bart blitzte ihn empört an. Ha, das ist ein Bolschewik! dachte er.
»Die Neutralen sind am besten dran, das sind heute die teuersten Länder«, schloß der Beamte die Debatte.
Kobler tat es aufrichtig leid, daß nicht auch Spanien und die Schweiz in den Weltkrieg verwickelt worden waren.
7
Am Abend bevor Kobler zur Weltausstellung fuhr, betrat er nochmals sein Stammlokal in der Schellingstraße, das war ein Café-Restaurant und nannte sich »Schellingsalon«. Er betrat es, um zu imponieren, und bestellte sich einen Schweinsbraten mit gemischtem Salat. »Sonst noch was?« fragte die Kellnerin. »Ich fahr nach Barcelona«, sagte er. »Geh, wer werd denn so blöd sein!« meinte sie und ließ ihn sitzen.
Da ging der Herr Kastner an seinem Tisch vorbei. »Ich fahr nach Barcelona!« rief ihm der Kobler zu, aber der Herr Kastner war schon längst vorbei.
Auch der Herr Dünzl ging an ihm vorbei. »Sie fahren nach Barcelona?« fragte der Dünzl bissig. »In diesen ernsten Zeiten, junger Mann ...« »Kusch!« unterbrach ihn Kobler verstimmt.
Auch der Graf Blanquez ging vorbei. »Ich fahr nach Barcelona«, sagte Kobler. »Seit wann denn?« erkundigte sich der Graf. »Seit heute.« »Also dann steigst mir noch heut auf den Hut!« sagte der Graf.
Und auch der Herr Schaal ging vorbei. »Ich fahr nach Barcelona«, meinte Kobler. »Glückliche Reise!« sagte der brave Herr Schaal und setzte sich an einen andern Tisch.
Kobler war erschüttert, denn er wollte ja imponieren, und es ging unter keinen Umständen. Geduckt schlich er ins Klosett.
»Zu zehn oder fünfzehn?« fragte ihn die zuvorkommende alte Rosa. »Ich fahr nach Barcelona«, murmelte er. »Was fehlt Ihnen?!« entsetzte sich die gute Alte, aber Kobler schwieg beharrlich, und die Alte machte sich so ihre Gedanken. Als er dann wieder draußen war, schielte sie sorgenvoll durch den Türspalt, ob er sich auch ein Bier bestellt hätte. Ja, er hatte sich sogar bereits das zweite Glas Bier bestellt, so hastig hatte er das erste heruntergeschüttet, weil er niemandem imponieren konnte. Es ist schon alles wie verhext! sagte er sich.
Da kam sie, das Fräulein Anna Pollinger.
»Ich fahr nach Barcelona«, begrüßte er sie. »Wieso?« fragte sie und sah ihn erschrocken an. Er sonnte sich in ihrem Blick. »Dort ist doch jetzt eine internationale Weltausstellung«, lächelte er gemein, und das tat ihm sogar wohl, obzwar er sonst immer anständig zu ihr gewesen ist.
Er half ihr überaus aufmerksam aus dem Mantel und legte ihn ordentlich über einen Stuhl, dabei hatte er jedoch einen sehr höhnischen Gesichtsausdruck. Sie nahm neben ihm Platz und beschäftigte sich mit einem wackelnden Knöpfchen auf ihrem Ärmel. Das Knöpfchen war nur zur Zierde da. Sie riß es ab.
Dann erst sah sich Anna in dem Lokal um