Die Memoiren des Sherlock Holmes: Holmes' erstes Abenteuer und andere Detektivgeschichten (Zweisprachige Ausgabe: Deutsch-Englisch). Ðртур Конан ДойлЧитать онлайн книгу.
nicht lange zu warten. Die Nachricht kam, als wir gerade mit dem Tee fertig waren. Sie lautete:
»Die Mieter sind wieder da. Habe das Gesicht nochmals am Fenster gesehen. Erwarte Sie mit dem Siebenuhrzug und tue keinen Schritt, bis Sie kommen.«
Wir trafen ihn auf dem Bahnsteig, als wir ausstiegen, und konnten beim Scheine her Stationslampe sehen, daß er sehr bleich war und vor Aufregung zitterte. »Sie sind noch da, Herr Holmes!« sagte er und legte seine Hand auf die Schulter meines Freundes. »Ich habe Licht im Hause gesehen, als ich vorbeikam. Wir müssen’s jetzt ein-für allemal ausmachen.«
»Wie ist also Ihr Plan?« fragte Holmes, als wir die dunkle, baumbepflanzte Straße hinuntergingen.
»Ich will mir gewaltsam Eingang verschaffen und selbst sehen, wer im Hause ist. Sie beide wünsche ich als Zeugen dabei zu haben.«
»Sie sind hierzu entschlossen trotz der Warnung Ihrer Frau, es sei besser, Sie drängen nicht in das Geheimnis?«
»Ja, ich bin entschlossen.«
»Gut. Ich denke, Sie haben recht. Jede Wahrheit ist besser als quälender Zweifel ohne Ende. Es ist besser, wir gehen sofort daran. Freilich, daß wir dabei gesetzwidrig handeln, ist nur allzu klar. Aber ich denke, unter den Umständen können wir’s riskieren.«
Es war eine sehr finstere Nacht, und ein leichter Regen setzte ein, als wir von der Landstraße in den enorm tief ausgefahrenen Heckenweg einbogen. Herr Grant Munro drängte jedoch ungeduldig vorwärts, und wir stolperten hinter ihm drein, so gut wir eben konnten.
»Dort sind die Lichter meines Hauses,« murmelte er, auf einen Schimmer zwischen den Bäumen weisend, »und das hier ist das Landhaus, in das ich hinein will.« Während er dies sagte, bog sich der Weg, und das Gebäude lag dicht neben uns. Ein gelber Lichtschein, der über den dunklen Vordergrund lief, ließ uns erkennen, daß die Tür nicht völlig geschlossen war, und ein Fenster im oberen Stockwerk war hell erleuchtet. Als wir hinschauten, sahen wir durch die Fensterblenden einen schwarzen Fleck sich bewegen.
»Das ist das Geschöpf!« rief Grant Munro. »Sie können selbst sehen, daß sich dort jemand befindet. Jetzt mir nach, und wir werden bald alles wissen!«
Wir näherten uns der Tür, aber plötzlich trat aus dem Schatten eine Frau hervor und stand vor uns, vom goldigen Schimmer des Lichtes übergossen. Ihr vom Lichtschein abgewandtes Gesicht konnte ich nicht erkennen, aber ich sah, wie sie ihre Arme flehend erhob.
»Um Gottes willen, Jack, tu es nicht!« rief sie mit trauervoller Stimme.
»Lass’ mich gehen! Ich muß vorbei. Meine Freunde und ich wollen diese Geschichte ein-für allemal zu Ende bringen.« Er schob sie beiseite, und wir folgten ihm unmittelbar. Als er die Tür weit aufriß, stellte sich ihm eine ältliche Frauensperson in den Weg, aber er stieß sie zurück, und einen Augenblick später waren wir alle auf der Treppe. Grant Munro stürzte in das erleuchtete Zimmer im oberen Stockwerk, und wir folgten ihm auf den Fersen.
Es war ein trauliches, hübsch ausgestattetes Zimmer, von zwei Kerzen auf dem Tisch und zwei anderen auf dem Kaminsims erhellt. Vor einem Sekretär an der Wand, an einen Polsterstuhl gelehnt, stand allem Anschein nach ein kleines Mädchen. Sein Gesicht war abgewandt, als wir eintraten, aber wir konnten sehen, daß es einen roten Rock anhatte und lange weiße Handschuhe trug. Als sie sich uns zukehrte, stieß ich einen Schrei der Ueberraschung und des Entsetzens aus. Das Gesicht, das sie uns zuwandte, zeigte eine höchst sonderbare fahle Farbe, und die Züge waren völlig ausdrucksleer. Einen Augenblick später war das Geheimnis enthüllt. Holmes fuhr lachend mit der Hand hinter das Ohr des Kindes, eine Maske schälte sich von seinem Angesicht und vor uns stand … ein kleines kohlschwarzes Negermädchen, das vor Vergnügen über unsere verdutzten Gesichter alle seine weißen Zähne blitzen ließ. Ich mußte in ihr lustiges Lachen einstimmen, aber Grant Munro starrte sie sprachlos an und fuhr sich mit der Hand an die Kehle.
»Mein Gott,« schrie er endlich, »was hat das zu bedeuten?«
»Ich will dir sagen, was es zu bedeuten hat,« rief Frau Munro, indem sie mit entschlossenem, gefaßtem Gesichtsausdruck ins Zimmer trat. »Du hast mich gegen meinen Wunsch zum Reden gezwungen, und nun müssen wir uns beide, so gut es gehen will, damit abfinden. Mein Mann ist in Atlanta gestorben, mein Kind aber ist am Leben geblieben.«
»Dein Kind?«
Sie zog ein silbernes Medaillon aus ihrem Busen. »Du hast dies niemals offen gesehen.«
»Ich dachte, es ginge nicht auf.«
Sie drückte auf eine Feder, und die Vorderseite sprang auf. Es wurde das Porträt eines Mannes sichtbar, der ausnehmend schöne und intelligente Züge besah, aber die unverkennbaren Merkmale afrikanischer Abstammung aufwies.
»Das ist John Hebron aus Atlanta,« sagte die Dame, »und keiner übertraf ihn an Adel der Gesinnung. Ich zerfiel mit allen Angehörigen meiner Rasse wegen meiner Heirat mit ihm, bereute es aber, solange er am Leben blieb, keinen Augenblick. Es war unser Unglück, daß unser einziges Kind mehr seinem Volke als meinem nachschlug. Das kommt oft in solchen Ehen vor, und unsere kleine Lucy ist weit dunkler, als ihr Vater je war. Aber dunkel oder hell, sie ist ein liebes kleines Mädel und ihrer Mutter Liebling.«
Bei diesen Worten sprang die Kleine auf, lief auf die Dame zu und verbarg ihr Gesicht in deren Kleide.
»Daß ich sie in Amerika ließ,« fuhr Frau Munro fort, »geschah nur, weil sie von zarter Gesundheit war und der Wechsel ihr hätte schaden können. Sie war der Obhut einer treuen Schottin anvertraut, die vorher in unserem Dienst gestanden hatte. Keinen Augenblick ist es mir auch nur im Traum in den Sinn gekommen, sie als mein Kind verleugnen zu wollen. Als uns das Schicksal aber zusammenführte, Jack, und ich dich lieben lernte, fürchtete ich mich, dir etwas von meinem Kinde zu sagen. Gott möge mir vergeben, aber ich glaubte, ich würde dich verlieren und hatte nicht den Mut, mit dir davon zu reden. Ich mußte zwischen euch beiden wählen, und in meiner Schwäche wandte ich mich von meinem eigenen kleinen Mädchen weg. Drei Jahre lang habe ich ihre Existenz vor dir verborgen gehalten, aber ihre Pflegerin gab mir Nachricht, und ich wußte, daß es ihr gut ging. Schließlich konnte ich aber der Sehnsucht nach dem Kinde nicht länger widerstehen und vergebens war mein Bemühen, sie zu unterdrücken. Obgleich ich mir der Gefahr bewußt war, beschloß ich, das Kind herüberkommen zu lassen, und wäre es auch nur auf ein paar Wochen. Ich schickte der Pflegerin hundert Pfund und gab ihr Anweisung in Betreff dieses Hauses, so daß sie meine Nachbarin werden könnte, ohne daß ich doch in irgend welcher Beziehung zu ihr zu stehen schiene. Um recht vorsichtig zu sein, ließ ich das Kind tagsüber nicht aus dem Hause gehen und sein kleines Gesicht und seine Hände mit einer Maske bedecken, damit sich nicht etwa, wenn es jemand am Fenster sähe, das Gerücht verbreiten könnte, es befinde sich hier ein Negerkind. Wäre ich weniger vorsichtig gewesen, so hätte ich vielleicht klüger gehandelt, aber ich war halb wahnsinnig vor Angst, du könntest die Wahrheit erfahren.
»Du hast mir zuerst mitgeteilt, daß das Häuschen wieder bezogen sei. Nun hätte ich bis zum Morgen warten sollen, aber ich konnte vor Aufregung nicht schlafen, und so schlich ich mich endlich davon, da ich ja wußte, wie schwer du aufzuwecken warst. Aber du sahst mich gehen, und damit fing meine Not an. Am nächsten Tage hattest du es in der Hand, meinem Geheimnis auf die Spur zu kommen, aber du warst großmütig genug, deinen Vorteil nicht zu verfolgen. Drei Tage später waren Kind und Pflegerin kaum zur Hintertür hinaus, als du zur vorderen hereinstürztest. Und heute weißt du nun alles, und ich frage dich: Was soll aus uns, meinem Kinde und mir, werden?« Sie schlug ihre Hände zusammen und wartete auf Antwort.
Es dauerte lange zwei Minuten, ehe Grant Munro das Schweigen brach; aber die Antwort, die er gab, war so, daß ich mich ihrer immer mit Vergnügen erinnere. Er hob die Kleine auf, küßte sie, streckte dann, das Kind auf dem Arme behaltend, der Mutter die Hand hin und wandte sich der Tür zu.
»Wir können die Sache gemütlicher daheim besprechen,« sagte er. »Ich bin kein sehr guter Mann, Effie, aber ich denke doch, ich bin besser, als du mich geschätzt hast.«
Holmes und ich folgten ihnen auf dem Heckenweg. Als wir auf die Straße kamen,