Hamburgische Dramaturgie. Gotthold Ephraim LessingЧитать онлайн книгу.
Stueck
Den 17. Julius 1767
Der Herr von Voltaire hat den "Essex" auf eine sonderbare Weise kritisiert. Ich moechte nicht gegen ihn behaupten, dass "Essex" ein vorzueglich gutes Stueck sei; aber das ist leicht zu erweisen, dass viele von den Fehlern, die er daran tadelt, teils sich nicht darin finden, teils unerhebliche Kleinigkeiten sind, die seinerseits eben nicht den richtigsten und wuerdigsten Begriff von der Tragoedie voraussetzen.
Es gehoert mit unter die Schwachheiten des Herrn von Voltaire, dass er ein sehr profunder Historikus sein will. Er schwang sich also auch bei dem "Essex" auf dieses sein Streitross und tummelte es gewaltig herum. Schade nur, dass alle die Taten, die er darauf verrichtet, des Staubes nicht wert sind, den er erregt.
Thomas Corneille hat ihm von der englischen Geschichte nur wenig gewusst; und zum Gluecke fuer den Dichter war das damalige Publikum noch unwissender. "Itzt", sagt er, "kennen wir die Koenigin Elisabeth und den Grafen Essex besser; itzt wuerden einem Dichter dergleichen grobe Verstossungen wider die historische Wahrheit schaerfer aufgemutzet werden".
Und welches sind denn diese Verstossungen? Voltaire hat ausgerechnet, dass die Koenigin damals, als sie dem Grafen den Prozess machen liess, achtundsechzig Jahr alt war. "Es waere also laecherlich", sagt er, "wenn man sich einbilden wollte, dass die Liebe den geringsten Anteil an dieser Begebenheit koenne gehabt haben." Warum das? Geschieht nichts Laecherliches in der Welt? Sich etwas Laecherliches als geschehen denken, ist das so laecherlich? "Nachdem das Urteil ueber den Essex abgegeben war", sagt Hume, "fand sich die Koenigin in der aeussersten Unruhe und in der grausamsten Ungewissheit. Rache und Zuneigung, Stolz und Mitleiden, Sorge fuer ihre eigene Sicherheit und Bekuemmernis um das Leben ihres Lieblings stritten unaufhoerlich in ihr: und vielleicht, dass sie in diesem quaelenden Zustande mehr zu beklagen war, als Essex selbst. Sie unterzeichnete und widerrufte den Befehl zu seiner Hinrichtung einmal ueber das andere; itzt war sie fast entschlossen, ihn dem Tode zu ueberliefern; den Augenblick darauf erwachte ihre Zaertlichkeit aufs neue, und er sollte leben. Die Feinde des Grafen liessen sie nicht aus den Augen; sie stellten ihr vor, dass er selbst den Tod wuensche, dass er selbst erklaeret habe, wie sie doch anders keine Ruhe vor ihm haben wuerde. Wahrscheinlicherweise tat diese Aeusserung von Reue und Achtung fuer die Sicherheit der Koenigin, die der Graf sonach lieber durch seinen Tod befestigen wollte, eine ganz andere Wirkung, als sich seine Feinde davon versprochen hatten. Sie fachte das Feuer einer alten Leidenschaft, die sie so lange fuer den ungluecklichen Gefangnen genaehret hatte, wieder an. Was aber dennoch ihr Herz gegen ihn verhaertete, war die vermeintliche Halsstarrigkeit, durchaus nicht um Gnade zu bitten. Sie versahe sich dieses Schrittes von ihm alle Stunden, und nur aus Verdruss, dass er nicht erfolgen wollte, liess sie dem Rechte endlich seinen Lauf."
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