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Der Schimmelreiter und andere Novellen (103 Titel in einem Band). Theodor StormЧитать онлайн книгу.

Der Schimmelreiter und andere Novellen (103 Titel in einem Band) - Theodor Storm


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Aber derselbe Augenblick, in welchem sie so die Kränkung der letzten Tage von ihm nahm, legte mit einem Male all ihren Zwiespalt und ihre Unruhe wie eine Last auf seine Seele, so daß er nur mit Zagen die in seinen Armen hielt, die jetzt mit vollem ungestümen Herzen zu ihm drängte.

      In der Zeit, die hierauf folgte, vermied Ehrhard, so viel dies möglich war, das Zusammentreffen mit Angelika; dagegen suchte er mit Anstrengung seine äußeren Verhältnisse zu fördern; selbst die Verpflichtungen der Dankbarkeit, so schwer er sie seinem Wesen nach empfinden mußte, hatte er nicht gescheut; denn er war keine geringe Natur. Allein es war nichts dadurch gewonnen worden. – Dann endlich versuchte er ein anderes, was ihm gelang. Auf sein Ansuchen erhielt er die Versicherung, daß er seiner hiesigen Verhältnisse in nächster Zeit enthoben und daß er dieselben an einem sehr entfernten Orte wiederfinden werde.

      Für Angelika nahm indessen das Drängen der Verhältnisse zu; ein junger Arzt hatte seit einiger Zeit unter unverkennbarer Begünstigung der Mutter so deutlich um den Besitz des Mädchens geworben, daß eine Erklärung nach irgend einer Seite hin in nächster Zukunft unvermeidlich schien.

      Es war eines Nachmittags in dieser Zeit. Ehrhard war auf dem Wege zu Angelika; er wollte sie auf seine Abreise vorbereiten, er wollte, wenn der rechte Augenblick sich böte, ihr sagen, daß sie scheiden müßten. Als er in den Flur des befreundeten Hauses trat, begegnete ihm der junge Arzt, der soeben die Treppe herabgekommen war. Ehrhard redete ihn an, wie es in solchem Falle zu geschehen pflegt. Er erhielt jedoch keine Antwort; der andere ging mit stummem Gruß und unverkennbar eilig an ihm vorüber.

      Nachdenklich stieg er die Treppe hinauf. – Drinnen im Wohnzimmer fand er Angelika vor dem offenen Klavier sitzend; aber sie spielte nicht. Ihre Gesichtszüge trugen wieder den Ausdruck der Schärfe, der ihn schon einmal erschreckt hatte. Als er sie grüßte, neigte sie ohne aufzusehen den Kopf, und ließ die eine Hand, die auf den Tasten lag, in ihren Schoß fallen. Es war sehr still im Zimmer; man hörte nur das Knistern einer Bernsteinperlenschnur, mit der ein kleines Mädchen, Ehrhards Schwesterkind, in dem Schoße der Mutter spielte, die scheinbar unbeschäftigt auf dem Sofa saß.

      Die alte Frau blickte über die vor ihr stehende Kleine nach ihrer Tochter, deren Antlitz sie nicht zu sehen vermochte. Sie rührte sich nicht aus ihrer Stellung, als Ehrhard ihr über den Tisch hinweg die Hand entgegenreichte.

      »Ich bin eine alte, einsame Frau, Ehrhard!« sagte sie, während sie seine Hand ein Weilchen in der ihren hielt.

      Er wußte hierauf nicht zu erwidern; aber unwillkürlich sprach er den Namen »Angelika« aus.

      »Angelika!« wiederholte die Mutter. »Sie wird es auch sein. – Sie will es sein!« fügte sie leiser hinzu, indem sie mit einem Ausdruck von Kummer und Zärtlichkeit das Haar des ruhig fortspielenden Kindes streichelte.

      Angelika, die bei diesen Worten aufgestanden war, hob die Kleine mit Heftigkeit auf den Arm und ging schweigend in das Nebenzimmer, ihr blondes Haar in das noch blondere des Kindes drückend.

      Es trat eine Pause zwischen den Zurückbleibenden ein.

      Als Angelikas Mutter reden wollte, unterbrach Ehrhard sie. »Es bedarf dessen nicht«, sagte er, und blickte dabei zu Boden, als würden ihm die Worte schwer, »ich werde gehen; nicht heute oder morgen schon, aber um einige Wochen und für immer; es ist alles vorbereitet. Sie können recht haben, daß ich es muß.«

      »Aber«, fuhr er fort und legte seine Hand auf den Arm der alten Frau, die ihm, wie er nicht verkennen konnte, ihre Zufriedenheit und ihren Dank für diese Worte aussprechen wollte, »aber für den Mann, der vor einer Stunde Ihr Haus verlassen hat, wird es dasselbe bleiben.«

      »Gehen Sie nur, gehen Sie nur, Ehrhard«, sagte sie schüchtern, »es kann mit Gottes Hilfe noch alles wieder gut werden.«

      Er blickte ratlos um sich her, als suchte er nach Worten der Verständigung, die von ihm zu dieser Frau doch nirgends in der Welt zu finden waren.

      Es war um die fünfte Stunde; die Magd brachte des Teegeschirr und auch Angelika trat wieder herein und ließ das Kind aus ihren Armen an die Erde gleiten. Ehrhard konnte sich nicht entschließen, jetzt zu gehen: er hoffte noch aus ihrem Wesen heraus eine Bestätigung seiner letzten Worte zu gewinnen. So blieb er denn und begann, so gut es gehen wollte, über andere Dinge zu sprechen, während Angelika den Tee bereitete und die Kleine zwischen ihnen hin und wider ging. Als aber jene, nachdem sie ihr häusliches Geschäft beendet, das kleine Mädchen auf den Schoß nahm und sich bald darauf mit ihr abseits unter den Akazienbaum ans Fenster setzte, flüsternd und erzählend, das Kind mit beiden Armen an sich drückend, da fühlte er wohl, sie wolle sich vor allen Ansprüchen verschließen, die er oder andere an sie machen könnten.

       Seitdem hatte Angelika die Kleine noch öfterer um sich. – Eines Abends kam Ehrhard, um sie abzuholen und dann mit ihr zu seiner Schwester zu gehen. Sie war aber schon mit dem Mädchen fortgeschickt. Angelika, die auf sein Schellen die Flurtür öffnete, sagte ihm das. Er zögerte einen Augenblick. »Willst du nicht eintreten?« fragte sie, indem sie den Türgriff in der Hand behielt.

      Er dankte. »Die Schwester wartet; ich kam nur des Kindes wegen.«

      »Du wirst sie noch einholen«, erwiderte Angelika, »sie sind erst eben fort.«

      Er sagte gute Nacht, stieg die Treppe hinab und ging eilig die Straßen entlang, bis er vor der Wohnung seiner Schwester stand. – Aber wie so oft das innere Erlebnis erst eine ganze Weile nach dem äußern eintritt, so fühlte er auch erst jetzt, daß Angelika vorhin eine andere, als sonst ihm gegenüber, gewesen sei. Nun in der Erinnerung erst hörte er deutlich den Ton ihrer Stimme und sah ihre Gestalt im trüben Schimmer des Flurlämpchens vor sich stehen. Er erschrak; denn er wußte plötzlich, daß er heute nicht willkommen gewesen wäre, wenn er Angelikas Einladung angenommen hätte.

      Als er in die Wohnung seiner Schwester kam, war die Kleine schon eine geraume Zeit zu Hause gewesen, und saß plaudernd auf dem Schoße der Mutter. Ehrhard trat zu ihnen und ließ sich erzählen.

      »Waren denn Fremde bei der Tante?« fragte er.

      Die Kleine nickte. »Ein Doktor!« sagte sie wichtig. »Der ist schön! Er hat mir Bonbons gegeben.«

      Wieder kam ein Augenblick des Alleinseins für die Liebenden. Das Gebüsch des Gartens schützte sie wieder einmal vor der Mittagssonne und vor den Augen der Welt; sie waren aber nicht wie früher Hand in Hand; es schien kein Geheimnis, das sich mit ihnen hier verbarg.

      »Und wenn er noch einmal um dich werben sollte?« fragte Ehrhard, während sie sich an dem steinernen Gartentischchen gegenüberstanden.

      »Er wird nicht wieder um mich werben.«

      »Aber wenn er es dennoch täte?«

      »Du quälst mich!« sagte sie, indem sie einen Zweig mit ihren Fingern knickte und einige Schritte von ihm abwärts ins Gebüsch ging.

      »O Angelika!« rief er, »sage, daß es nie geschehen könne! Denn wenn du es begangen, davon ist keine Rückkehr.«

      Sie sagte: »Wie ich jetzt lebe, so kann ich nicht fortleben. Was soll ich tun?«

      »Antworte mir eines: Ist jener Mann dir mehr, als einer von den andern?«

      Sie antwortete ihm nicht; aber ein Tropfen Blutes sprang zwischen den Zähnen hindurch auf ihre Lippen. – Es war wie Zorn, das ihn bei diesem Anblick überkam, und er schüttelte ihren Arm, daß sie ihm Rede stehe. Aber sie sagte nur: »Du kannst nichts für mich tun; – du darfst das nicht von mir verlangen.«

      »Angelika!« schrie er; aber sie sah ihn mit müden, ausdruckslosen Augen an; er begrub sein Gesicht in ihre Hände und sagte leise: »Du liebst mich ja, Angelika!« Aber sie hatte sich schon losgerissen; sie hörte es nicht mehr.

       Währenddessen näherten sich ihr manche, die sie sonst fern gehalten, die sich instinktmäßig nicht in ihre Nähe gewagt hatten. Sie neigte sich dem und jenem; nicht weil ihr Herz seiner Liebe oder ihre Sinne ihrem Herzen treulos geworden wären; sondern weil sie es so wollte, weil sie glaubte, das Leben weise sie auf


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