Der Schimmelreiter und andere Novellen (103 Titel in einem Band). Theodor StormЧитать онлайн книгу.
mit dem Gebetbuch in der Hand das Haus.
Nach einer Weile trat sie in die Lambertuskirche. Der Vormittag war indes herangekommen. Vor den Fenstern des mächtigen Raumes schatteten die jetzt schon belaubten Zweige der draußen stehenden Lindenbäume; nur im Chor auf die Türen des Reliquienschrankes fiel ein gebrochener Sonnenstrahl durch die bunten Glasscheiben. In den Stühlen im Schiff der Kirche saßen oder knieten hie und da noch einzelne vor den aufgeschlagenen Gebetbüchern, sich vorbereitend auf das abzulegende Bekenntnis. Nichts war vernehmlich, als das Flüstern in den Beichtstühlen, mitunter ein tiefes Atemholen, das Rauschen eines Kleides oder ein leiser Schritt über die Fliesen des Fußbodens. – Bald kniete auch Veronika in einem der Beichtstühle, unweit des Bildes der Gebenedeiten, das mitleidig lächelnd auf sie herabblickte. Ihre ganz schwarze Kleidung machte heute die durchsichtige Blässe ihres Angesichtes noch bemerklicher. Der Geistliche, ein kräftiger Mann in mittleren Jahren, lehnte von drinnen den Kopf gegen das Gitter, das ihn von seinem Beichtkinde trennte.
Veronika begann halblaut die Worte der Einleitungsformel: »Ich armer sündiger Mensch!«, und mit unsicherer Stimme fuhr sie fort: »bekenne vor Gott und Euch Priester an Gottes Statt!« – – Aber ihre Worte wurden immer langsamer, immer unverständlicher; zuletzt verstummte sie.
Das dunkle Auge des Priesters war ruhig und fast mit einem Ausdruck von Ermüdung auf sie gerichtet; denn die Beichte hatte schon stundenlang gedauert. »Bekehret euch zu dem Herrn!« sprach er milde. »Die Sünde tötet; aber die Buße machet lebendig.«
Sie suchte ihre Gedanken zu sammeln. Und wieder vor ihrem innern Ohr, wie so oft seit jener Stunde, war das Tosen der Mühle; und wieder stand sie vor ihm in der heimlichen Dämmerung, ihre Hände gefangen in den seinen, im Drang des übermächtigen Gefühls die Augen schließend, im Scham gebannt, nicht wagend zu entfliehen, noch weniger zu bleiben. – Ihre Lippen bewegten sich; aber sie brachte es nicht hervor, sie mühte sich vergebens.
Der Priester schwieg eine Weile. »Mut, meine Tochter!« sagte er dann, indem er das Haupt mit dem vollen schwarzen Haar emporhob. »Gedenken Sie der Worte des Herrn: Nehmet hin den Heiligen Geist; denen ihr die Sünden erlasset, denen sollen sie vergeben sein!«
Sie blickte auf. Das gerötete Antlitz, der kräftige Stiernacken des Mannes im Priesterornate war dicht vor ihren Augen. Sie begann noch einmal; aber ein unüberwindliches Sträuben überkam sie, eine Scheu wie vor unkeuschem Beginnen, schlimmer als was zu bekennen sie hieher gekommen. – Sie erschrak. War, was sich jetzt in ihr empörte, nicht eine Lockung der Todsünde, von der sie sich befreien wollte? – Sie neigte in stummem Kampf ihr Haupt auf das vor ihr liegende Gebetbuch.
Aus dem Antlitz des Geistlichen war indessen der Ausdruck von Abspannung verschwunden. Er begann zu sprechen, ernst und eindringlich und bald mit allem Zauber der Überredung; leis aber klangvoll drang der Ton seiner Stimme in ihre Ohren. Zu jeder andern Stunde wäre sie hingerissen in den Staub gesunken; aber diesmal war das neu erwachte Gefühl stärker, als alle Macht der Rede und alle Gewöhnung ihrer Jugend. – Ihre Hand nestelte an dem Schleier, der auf ihren Hut zurückgeschlagen war. »Verzeihung, Hochwürden«, stammelte sie. Dann, während sie stumm das Haupt schüttelte, zog sie den Schleier herab, und ohne das Zeichen des Kreuzes empfangen zu haben, stand sie auf und ging mit eiligen Schritten den Steig entlang. Ihre Kleider rauschten an den Kirchenstühlen; sie nahm sie zusammen; ihr war, als griffe alles nach ihr, um sie hier zurückzuhalten.
Draußen unter dem hohen Portale blieb sie tief aufatmend stehen. Ihr war schwer zu Sinne; sie hatte die rettende Hand, von der sie seit ihrer Jugend geführt worden war, zurückgestoßen; sie wußte keine, die sie jetzt ergreifen konnte. Da, während sie noch unentschlossen auf dem sonnigen Platze stand, hörte sie neben sich eine Kinderstimme, und eine kleine braune Hand hielt ihr feilbietend einen vollen Primelstrauß entgegen. – Es war ja Frühling draußen in der Welt! Als hätte sie es nicht gewußt; wie eine Botschaft kam es an ihr Herz.
Sie bückte sich nach dem Kinde und kaufte ihm seine Blumen ab; dann mit dem Strauße in der Hand ging sie die Straße hinunter dem Tore zu. Der Sonnenschein lag so hell auf den Steinen; aus dem offenen Fenster eines Hauses drang der laute Schlag eines Kanarienvogels. – Langsam fortgehend erreichte sie die letzten Häuser. Von hier aus führte seitwärts ein Fußsteig nach dem Höhenzuge, der nach dieser Richtung hin das Stadtgebiet begrenzte. Veronika atmete freier; ihre Augen ruhten auf dem Grün der Saatfelder, die neben dem Wege hinliefen; mitunter regte sich die Luft und brachte den sanften Duft der Schlüsselblumen, die drüben an dem Fuß des Berges standen. Weiterhin, wo an der Grenze der Felder der Nadelwald begann, erhob der Weg sich steiler, und es bedurfte der körperlichen Anstrengung, obgleich Veronika des Bergsteigens von Jugend an gewohnt war. Sie hielt mitunter inne, und blickte aus dem Schatten der Fichten in das sonnige Tal hinab, das immer tiefer unter ihr versank.
Als sie die Höhe erreicht hatte, setzte sie sich auf den Boden in den wilden Thymian, der hier den ganzen Berg besponnen hatte; und während sie die würzige Luft des Waldes atmete, schweifte ihr Blick nach dem blauen Gebirg hinüber, das wie ein Duft am Horizonte lag. Hinter ihr in kleinen Pausen fuhr der Frühlingswind durch die Wipfel der Tannen, dann und wann schallte ein Amselschlag aus der Tiefe des Waldes, oder über ihr aus der Luft herab der Schrei eines Raubvogels, der unsichtbar in dem unermeßnen Raume schwebte. – Veronika nahm ihren Hut ab und stützte den Kopf in ihre Hand.
So in Einsamkeit und Stille verging eine Spanne Zeit. Nichts nahte sich als nur die reinen Lüfte, die ihre Stirn berührten, und der Ruf der Kreaturen, der aus der Ferne an ihr Ohr schlug. – Zuweilen flog ein helles Rot über ihre Wangen und ihre Augen wurden groß und glänzend.
Nun klangen Glockentöne von der Stadt herauf. Sie hob den Kopf und horchte. Es läutete schrill und hastig. »Requiescat!« sprach sie leise; denn sie hatte die kleine Glocke vom Lambertusturm erkannt, die es über die Gemeinde ausrief, daß unter eines ihrer Dächer der finstere Bote des Herrn getreten sei.
Am Fuße des Berges lag der Kirchhof. – Sie sah das Steinkreuz auf dem Grabe ihres Vaters ragen, der vor Jahresfrist unter den Gebeten des Priesters in ihren Armen entschlafen war. Und weiterhin, dort wo das Wasser glitzerte, war jenes wüste Fleckchen Erde, das sie als Kind so oft mit scheuer Neugierde betreten hatte, wo nach dem Gebot der Kirche neben denen, die sich selbst den Tod gegeben hatten, auch die begraben wurden, welche nicht gekommen waren, das Sakrament des Altars zu empfangen. – Dort war auch ihre Stätte jetzt; denn die Zeit der österlichen Beichte war zu Ende.
Ein schmerzlicher Zug stahl sich um ihren Mund, aber er verschwand wieder. Sie richtete sich auf; ein Entschluß stand fest und klar in ihrer Seele.
Noch eine Weile blickte sie auf die Stadt hinab, und ließ ihre Augen wie suchend über die sonnbeschienenen Dächer wandern. Dann wandte sie sich, und ging durch die Tannen, wie sie gekommen, den Berg hinab. Bald war sie wieder unten zwischen dem Grün der Saatfelder. Sie schien zu eilen; aber sie ging aufrecht und mit festen Schritten.
So erreichte sie ihr Haus. – Von der Magd erfuhr sie, daß ihr Mann in seinem Zimmer sei. Als sie die Tür geöffnet und ihn so ruhig an seinem Schreibtische sitzen sah, blieb sie zögernd auf der Schwelle stehen. »Franz!« rief sie leise.
Er legte die Feder hin. »Du, Vroni?« sagte er sich zu ihr wendend. »Du kommst ja spät! War das Register denn so lang?«
»Scherze nicht!« sagte sie bittend, indem sie zu ihm trat und seine Hand ergriff. »Ich habe nicht gebeichtet.«
Er blickte verwundert zu ihr auf; sie aber kniete vor ihm nieder und drückte ihren Mund auf seine Hand. »Franz«, sagte sie, »ich habe dich gekränkt!«
»Mich, Veronika?« fragte er und nahm ihre Wangen sanft zwischen seine Hände.
Sie nickte und sah mit dem Ausdruck der tiefsten Bekümmernis zu ihm auf.
»Und jetzt bist du gekommen, deinem Mann zu beichten?«
»Nein, Franz«, erwiderte sie, »nicht beichten; aber vertrauen will ich dir – dir allein; und du – hilf mir, und, wenn du es vermagst, verzeihe mir!«
Eine Weile sah er sie mit seinen ernsten Augen an; dann hob er sie mit beiden Armen auf und