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Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke - Prosa, Reportagen, Gedichte. Kurt TucholskyЧитать онлайн книгу.

Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke - Prosa, Reportagen, Gedichte - Kurt  Tucholsky


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wechselte oft ihr Personal und brachte sich die Angestellten häufig aus Deutschland mit, wohin sie manchmal reiste. Im Winter saß sie hier oben fast allein, nur wenige Kinder blieben dann da – wie zum Beispiel die kleine Ada. Ihr Mann … wenn Frau Adriani an ihren Mann dachte, war es, wie wenn sie eine Fliege verjagen mußte. Dieser Mann … sie zuckte nicht einmal mehr die Achseln. Er saß in seinem Zimmer und ordnete Briefmarken. Sie verdiente das Geld. Sie. Und im Winter wartete sie auf den Sommer – denn der Sommer war ihre Zeit. Im Sommer konnte sie durch die langen Korridore des Landhauses donnern und befehlen und verbieten und anordnen, und alles um sie herum fragte sich gegenseitig nach ihrer Stimmung und zitterte vor Furcht, und sie genoß diese Furcht bis in die Haarspitzen. Fremde Willen unter sich fühlen – das war wie … das war das Leben.

      »Jetzt bleiben alle hier oben, bis es zum Essen klingelt. Wer spricht, hat Essenentzug. Sonja! Deine Haarschleife!« Ein Mädchen riß sich, puterrot, die Schleife, die sich gelöst hatte, aus den Haaren und band sie von neuem. Es war so still – man hörte vierzig kleine Mädchen atmen. Frau Adriani genoß mit einem kalten Blick ihrer graugrünen Augen die Situation, dann ging sie hinaus. Hinter ihr zischelte es zwiefach: das waren die, die, ganz leise, sprechen wollten, und die andern, die die Flüsternden mit einem »Pst!« daran zu hindern suchten. Das Kind stand für sich allein. Kleine Mädchen können sehr grausam sein. Es war sonst keine bestraft worden, am heutigen Tage – die Majorität hatte also stillschweigend beschlossen, das Kind fallenzulassen. Das Kind hieß »das Kind«, weil es einmal auf die Frage der Adriani: »Was bist du?« geantwortet hatte: »Ich bin ein Kind.« Niemand beachtete es jetzt.

      Wann hört dies auf? dachte das Kind. Das hört nie auf. Und dann liefen die Tränen, und nun weinte es, weil es weinte.

2

      Die Bäume rauschten vor unsern Fenstern, und sie rauschten mich aus einem Traum, von dem ich schon beim Erwachen nicht mehr sagen konnte, was das gewesen sein mochte. Ich drehte mich in den Kissen; sie waren noch schwer von Traum. Vergessen … Warum war ich aufgewacht?

      Es klopfte.

      »Die Post! Daddy, die Post! Geh mal an die Tür!«

      Die Prinzessin, die eben noch geschlafen hatte, war wach – ohne Übergang.

      Ich ging. Zwischen Bett und Tür überlegte ich, wie es doch zwischen Mann und Frau Morgen-Augenblicke gibt, da hat es sich mit der Liebe ausgeliebt. Sehr entscheidende Augenblicke – wenn die gut verlaufen, dann geht alles gut. Von dem quäkrigen »Wieviel Uhr ist es denn …?« bis zum »Hua – na, da steh auf!« … da pickt die kleine Uhr auf dem Nachttisch viel Zeit auf, der Tag ist erwacht, nun schläft die Nacht, es schläft die unterirdische Hemisphäre … bei den meisten Frauen wenigstens, leider … Ich war an der Tür. Eine Hand steckte Briefe durch den Schlitz.

      Die Prinzessin hatte sich im Bett halbaufgerichtet und warf vor Aufregung alle Kissen durcheinander. »Meine Briefe! Das sind meine Briefe! Du Schabülkenkopp! Gib sie her! Na, da schall doch gliks …« Sie bekam ihren Brief. Er war von ihrer Stellvertreterin aus dem Geschäft, und es stand darin geschrieben, daß es nichts zu schreiben gäbe. Die Sache mit Tichauer wäre in Ordnung. Beim kleinen Inventarbuch wären sie bei G. Das zu hören beruhigte mich ungemein. Was für Sorgen hatten diese Leute! Was für Sorgen sie hatten? Ihre eignen, merkwürdigerweise.

      »Geh mal Wasser braten!« sagte die Prinzessin. »Du mußt dich rasieren. So, wie du da bist, kannst du keinem Menschen einen Kuß geben. Was hast du für einen Brief bekommen?« – Ich grinste und hielt den Brief hinter meinem Rücken verborgen. Die Prinzessin stritt erbittert mit den Kissen. »Wahrscheinlich von irgendeiner Braut … einer dieser alten Exzellenzen, die du so liebst … Zeig her. Zeig her, sag ich!« Ich zeigte ihn nicht. »Ich zeige ihn nicht!« sagte ich. »Ich werde dir den Anfang vorlesen. Ich schwöre, daß es so dasteht, wie ich lese – ich schwöre es. Dann kannst du ihn sehn.« Ein Kissen fiel, erschöpft und zu Tode geschlagen, aus dem Bett. – »Von wem ist er?« – »Er ist von meiner Tante Emmy. Wir sind verzankt. Jetzt will sie etwas von mir. Darum schreibt sie. Sie schreibt:

      Mein lieber Junge! Kurz vor meiner Einäscherung ergreife ich die Feder …«

      »Das ist nicht wahr!« schrie die Prinzessin. »Das ist … gib her! Es ist ganz grrroßartig, wie Bengtsson sagen würde. Geh dich rasieren und halt die Leute hier nich mit deine eingeäscherten Tantens auf!«

      Und dann gingen wir in die Landschaft.

      Das Schloß Gripsholm strahlte in den Himmel; es lag beruhigend und dick da und bewachte sich selbst. Der See schaukelte ganz leise und spielte – plitsch, plitsch – am Ufer. Das Schiff nach Stockholm war schon fort; man ahnte nur noch eine Rauchfahne hinter den Bäumen. Wir gingen quer ins Land hinein.

      »Die Frau im Schloß«, sagte die Prinzessin, »spricht ein privates Deutsch. Eben hat sie mich gefragt, ob wir es nachts auch warm genug hätten – ich wäre wohl gewiß ein Frierküchlein …« – »Das ist schön«, sagte ich. »Man weiß bei den nordischen Leuten nie, ob sie sich das wörtlich aus ihren Sprachen übersetzen oder ob sie unbewußt Neues schaffen. In Kopenhagen kannte ich mal eine, die sagte – und sie hatte eine Baßstimme vor Wut: Dieses Kopenhagen ist keine Hauptstadt – das ist ein Hauptloch! Ob sie das wohl erfunden hat?« – »Du kennst so viele Leute, Daddy!« sagte die Prinzessin. »Das muß schön sein …« – »Nein, ich kenne lange nicht mehr so viel Leute wie früher. Wozu auch?« – »Ick will di mal wat seggen, min Jung«, sagte die Prinzessin, die es heute mit dem Plattdeutschen hatte. »Wenn du nen Minschen kennenliernst un du weißt nich so recht, wat mit em los ist, dann frag di ierst mal: giwt hei mie Leev oder giwt hei mi Geld? Wenn nix von beid Deil, denn lat em lopen und holl di nich bi em upp! Dessenungeachtet brauchst du aber nicht in diesen Fladen zu treten!« – »Donnerschlag!« – »Du sollst keines Fluches gebrauchen, Peter!« sagte die Prinzessin salbungsvoll. »Das schickt sich nicht. Und nun legen wir uns woll ein büschen auf düsen Rasenplatz!«

      Da lagen wir …

      Der Wald rauscht. Der Wind zieht oben durch die Wipfel, und ein ganz feiner Geruch steigt vom Boden auf, ein wenig säuerlich und frisch, moosig, und etwas Harz ist dabei.

      »Was hätte Arnold jetzt gesagt?« fragte ich vorsichtig. Arnold war ihr erster; wenn die Prinzessin sehr guter Laune war, konnte man sie daran erinnern. Jetzt war sie guter Laune. »Er hätte nichts gesagt«, antwortete sie. »Er hatte auch nichts zu sagen, aber das habe ich erst sehr spät gemerkt.« – »Also nicht klug?« – »In meinem Papierkorb ist mehr Ordnung als in dem seinen Kopf! Er sprach wenig. Im Anfang hielt ich dieses Schweigen für sehr bedeutend; er war eben ein karger Schmuser. Das gibt’s!« Schritte auf dem weichen Moos; ein kleiner Junge kam den Waldweg entlanggestolpert, er murmelte etwas vor sich hin … als er uns sah, schwieg er; er blickte zu den Bäumen auf und begann dann zu laufen.

      »Das wäre etwas für einen Staatsanwalt«, sagte ich. »Der würde in seiner Schläue einen ganzen Tatbestand aufbauen. Wahrscheinlich hat dieser Knabe aber nur Zahlen gebetet und sich geschämt, als er uns gesehn hat …« – »Nein, es war so«, sagte die Prinzessin. Sie lag auf dem Rücken und erzählte zu den Wolken: »Ein Jung sall mal nan Kopmann gahn und Seip un Solt halen. Dor sä hei ümme vor sich hen: Seip un Solt … Seip un Solt … Hei sei över nich nah sin Feut, un so füll he övern Bohnenstrang. Dunnersweer! Tran un Teer! sä he – und bleew nu uck bi Tran un Teer un köffte Tran und Teer … Peter! Peter! Wie ist es mit dem Leben! Erzähl schnell, wie es mit dem Leben ist! Nein, jetzt sage nicht wieder deine unanständigen Wörter … die weiß ich allein. Wie ist es? Jetzt gleich will ich es wissen!« – Ich sog den bittern Geschmack aus einem trocknen Zweig mit Fichtennadeln.

      »Erst habe ich gemerkt«, sagte ich, »wie es ist. Und dann habe ich verstanden, warum es so ist – und dann habe ich begriffen, warum es nicht anders sein kann. Und doch möchte ich, daß es anders wird. Es ist eine Frage der Kraft. Wenn man sich selber treu bleibt …«

      Mit ihrem tiefsten Alt: »Nach den Proben an Treue, die du bei mir abgelegt hast …«

      »Ob es wohl möglich ist, mit einer Frau ernsthaft etwas zu bereden. Es ist nicht möglich. Und so was hat nun das Wahlrecht!«

      »Das sagt der Chef auch immer. Was der jetzt wohl macht?«

      »Er wird sich wahrscheinlich


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