Gesammelte Romane: 15 Romane in einem Band. Оноре де БальзакЧитать онлайн книгу.
und die Ausgeburten seines Schlummers, wurde wieder Mensch, erkannte in dem Alten ein Geschöpf aus Fleisch und Blut, das recht lebendig und keineswegs ein Trugbild war, und lebte wieder in der wirklichen Welt. Die liebevolle Sorge, die milde Heiterkeit des göttlichen Angesichts teilten sich ihm mit. Ein dem Himmel entströmter Hauch löste die Höllenqualen, die ihm das Mark verzehrten. Der Kopf des Erlösers tauchte aus der Finsternis, die der schwarze Hintergrund vorstellte; ein Strahlenkranz umgab sein Haar, aus dem dieses Leuchten hervorzubrechen schien; von der Stirn, von den Wangen, aus allen Zügen strömte eine beredte eindringliche Überzeugung. Die tief roten Lippen hatten das Wort des Lebens verkündet, und der Betrachter lauschte auf dessen heiligen Widerhall in den Lüften, befragte die Stille nach seinen wundervollen Gleichnissen, hörte es in der Zukunft, fand es in den Lehren der Vergangenheit wieder. In der ruhigen Klarheit dieser anbetungswürdigen Augen, zu denen bekümmerte Herzen sich flüchteten, lag das ganze Evangelium. Aus seinem holden erhabenen Lächeln schließlich, das das Grundgebot: ›Liebet einander!‹ auszudrücken schien, konnte man die ganze katholische Religion herauslesen. Dieses Gemälde stimmte zur Andacht, rief zur Versöhnung auf, tötete die Selbstsucht, weckte alle schlummernden Tugenden. Gleich der Zauberkraft der Musik beschwor Raffaels Schöpfung köstliche Erinnerungen, und der Sieg des Bildes war so vollkommen, daß man den Maler vergaß. Das trügerische Licht vervollständigte das Wunder: für Augenblicke schien es, als ob der Kopf weit entfernt in einer Wolke sich bewegte.
»Ich habe für dieses Bild ein Vermögen hingegeben«, sagte der Händler kühl.
»Nun denn, jetzt heißt es sterben!« rief der junge Mann, der aus seiner Versunkenheit auffuhr; sein letzter Gedanke hatte ihn über eine Kette ihm kaum bewußter Überlegungen von einer letzten Hoffnung, an die er sich geklammert hatte, zu seinem unseligen Geschick zurückgeführt.
»Aha! Also hatte ich doch recht, dir zu mißtrauen!« stieß der Alte hervor, packte die Hände des jungen Mannes und preßte sie mit einer Hand an den Handgelenken zusammen wie mit einem Schraubstock.
Der Unbekannte lächelte traurig über dieses Mißverständnis und sagte sanft: »Fürchten Sie nichts, Monsieur, es handelt sich um mein Leben, nicht um das Ihre. Warum soll ich eine harmlose List nicht eingestehen?« fuhr er fort, da er die Unruhe des Alten bemerkte. »Ich wollte die Nacht abwarten, um mich, ohne Aufsehen, ertränken zu können, und bin hierhergekommen, Ihre Schätze zu besichtigen. Wer wird einem Mann der Wissenschaft und Poesie dieses letzte Vergnügen verargen?«
Der mißtrauische Händler durchforschte, während er ihm zuhörte, mit scharfen Blicken das düstere Antlitz seines angeblichen Kunden. Der schmerzliche Klang der Stimme indes beruhigte ihn bald, vielleicht las er auch in den fahlen Zügen das düstere Schicksal, vor dem vorher die Spieler zurückgebebt waren, und er ließ die Hände los. Doch streckte er mit einem Rest von Argwohn, der eine mindestens hundertjährige Erfahrung verriet, den Arm nach einem Buffet aus, wie um sich aufzustützen, und langte nach einem Stilett, wobei er fragte: »Sind Sie seit drei Jahren Beamtenanwärter beim Schatzamt und haben keine Sonderzulage erhalten?«
Der Unbekannte konnte sich nicht enthalten zu lächeln, während er mit einer Gebärde verneinte.
»Hat Ihnen Ihr Vater Ihre Geburt zu heftig vorgeworfen? Oder haben Sie Ihre Ehre eingebüßt?« »Wenn ich sie einbüßen wollte, würde ich am Leben bleiben.«
»Sind Sie in den Funambules ausgepfiffen worden? Oder sind Sie genötigt, Gassenhauer zu komponieren, um das Begräbnis Ihrer Geliebten zu bezahlen? Hat Sie nicht vielmehr die Sucht nach Gold gepackt? Wollen Sie die Langeweile totschlagen? Nun, welch ein Wahn treibt Sie in den Tod?«
»Suchen Sie den Grund meines Todes nicht in den Ursachen, welche gemeinhin zu Selbstmorden führen. Um mir zu ersparen, Ihnen die unerhörten Leiden, die sich mit menschlicher Sprache ohnehin schwer ausdrücken lassen, zu enthüllen, will ich Ihnen nur sagen, daß ich mich in der tiefsten, schmählichsten, qualvollsten Not befinde. Und«, fügte er mit einem Ton hinzu, dessen wilder Stolz seine vorhergehenden Worte Lügen strafte, »ich will weder um Hilfe noch um Trost betteln.«
»He, he!« Die beiden Silben, die der Alte zunächst statt einer Antwort hören ließ, klangen wie das Kreischen einer Knarre. Dann fuhr er fort: »Ohne Sie zu nötigen, mich anzubetteln, ohne Sie zu beschämen, ohne Ihnen einen französischen Centime, einen Para aus der Levante, eine sizilianische Tari, einen deutschen Heller, eine russische Kopeke, einen schottischen Farthing, eine einzige Sesterze oder einen Obolus der alten Welt noch einen Piaster der neuen zu geben, ohne Ihnen irgend etwas von Gold, Silber, Münzen, Banknoten oder Wertpapieren anzubieten, will ich Sie reicher, mächtiger und angesehener machen, als es ein konstitutioneller König sein kann.«
Der junge Mann glaubte, der Alte sei kindisch geworden, er war wie betäubt und wagte nicht zu antworten.
»Drehen Sie sich um«, sagte der Händler und griff plötzlich zur Lampe, um ihr Licht auf die dem Bildnis gegenüberliegende Wand fallen zu lassen – »und betrachten Sie dieses Chagrinleder«, fügte er hinzu.
Der junge Mann erhob sich hastig und zeigte sich einigermaßen erstaunt, als er über dem Sessel, auf dem er gesessen hatte, ein Stück Chagrin an der Wand hängen sah, das nicht größer als eine Fuchshaut war; doch, einem auf den ersten Blick unerklärlichen Phänomen zufolge, warf dieses Leder in das tiefe Dunkel des Ladens so leuchtende Strahlen, daß man hätte denken können, sie gingen von einem kleinen Kometen aus. Der ungläubige junge Mann näherte sich dem angeblichen Talisman, der ihn vor Unglück bewahren sollte, und machte sich innerlich darüber lustig. Als er sich jedoch, von einer berechtigten Neugierde getrieben, vorbeugte, um die Haut von allen Seiten zu betrachten, entdeckte er bald einen natürlichen Grund für diese sonderbare Leuchtkraft. Die schwarzen Narben des Chagrins waren so sorgfältig geglättet und so vortrefflich poliert, die verschlungenen Rillen so klar und scharf, daß die Unebenheiten dieses orientalischen Leders, gleich den Facetten eines Granats, ebenso viele kleine Brennpunkte bildeten, die das Licht funkelnd zurückwarfen. Er erklärte dem Alten wissenschaftlich den Grund dieser Erscheinung, jener indes, statt zu antworten, lächelte nur vielsagend. Dieses überlegene Lächeln ließ den jungen Gelehrten vermuten, er werde mit irgendeinem Hokuspokus zum besten gehalten. Er wollte kein weiteres Rätsel mit in das Grab nehmen und drehte die Haut schnell um, wie ein Kind, das begierig ist, die Geheimnisse seines neuen Spielzeugs kennenzulernen.
»Aha!« rief er, »hier ist der Abdruck des Siegels, das die Orientalen das Siegel Salomons nennen.«
»Sie kennen es also?« fragte der Händler und stieß zwei- oder dreimal die Luft durch die Nase, was mehr besagte als die kräftigsten Worte.
»Ob es auf der Welt wohl einen Menschen gibt, der so einfältig wäre, an dieses Hirngespinst zu glauben?« rief der junge Mann, gereizt von diesem stummen Lachen voll bitteren Hohns.
»Wissen Sie denn nicht, daß der Aberglaube des Orients die mystische Form und die lügnerischen Schriftzeichen dieses Symbols geschaffen hat, das eine fabelhafte Macht vorstellen soll? Ich glaube, daß man mich diesbezüglich nicht minder der Albernheit bezichtigen müßte, als spräche ich von Sphinxen oder Greifen, deren Existenz ja auch mythologisch gewissermaßen beglaubigt ist.«
»Da Sie Orientalist sind, können Sie vielleicht diese Inschrift lesen?«
Er hob die Lampe dicht an den Talisman, den der junge Mann verkehrt herum hielt, und machte ihn auf die Schriftzeichen aufmerksam, die in das Zellgewebe dieser Wunderhaut eingekerbt waren, als ob sie das Tier, dem sie vormals angehört hatte, selbst hervorgebracht hätte.
»Ich gestehe«, rief der Unbekannte, »daß mir das Verfahren, dessen man sich bediente, um diese Buchstaben so tief in die Haut eines wilden Esels einzugravieren, unbekannt ist.«
Er kehrte sich lebhaft den mit Kuriositäten beladenen Tischen zu, und seine Augen schienen dort etwas zu suchen.
»Was wünschen Sie?« fragte der Alte.
»Ein Instrument, um das Chagrin anzuschneiden, damit ich sehen kann, ob die Buchstaben eingeprägt oder eingelegt sind.«
Der Alte reichte dem Unbekannten sein Stilett; der nahm es und begann das Leder an der Stelle, wo die Worte geschrieben standen, einzuschneiden; als er aber eine dünne Schicht Leder abgehoben hatte, traten die Buchstaben darunter wieder