Die politischen Ideen. Ulrich ThieleЧитать онлайн книгу.
werden können, weil sie das Prinzip der Volkssouveränität unverkürzt zur Geltung bringe. Bei genauerer Betrachtung erweist sich allerdings die von rechtsstaatlichem Hemmnissen befreite, beschleunigte Volksdemokratie als Etikettenschwindel: Schmitts Demokratietheorie der 20er und 30er Jahre ist insofern zutiefst antidemokratisch, als sie die reellen Möglichkeiten der Normunterworfenen, die Staatswillensbildung zu beeinflussen, auf die Akklamation der mit Diktaturvollmachten ausgestatteten Herrschaftselite reduziert wissen will.
Schmitts extremer Antikontraktualismus beruft sich paradoxerweise auf eine Theorie, die sich selbst zu Recht als Vollendung der liberalen Gesellschaftsvertragtheorie versteht: die Volkssouveränitätstheorie. Ihr gelingt es nämlich, das Prinzip der Erzeugung von Rechtsnormen durch deren Adressaten nicht nur für den staatsrechtlichen Gründungsakt, sondern ebenso für alle weiteren Verfassungsänderungen zu spezifizieren. Schmitts Versuch einer Indienstnahme der Theorie des pouvoir constituant für seine eigene pseudodemokratische Diktaturtheorie läuft auf eine radikale Uminterpretation der Sieyesschen Lehre hinaus: Alles Prozedurale und Kontraktuelle, jede formelle und materiale Einschränkung der konstituierten Souveränität wird aus ihr getilgt. Damit aber verwandelt man sie in eine Karikatur ihrer selbst. Freiheitsgrundrechte und Gewaltenteilung auf der einen Seite und gesetz- sowie verfassunggebende Volkssouveränität sind nämlich nicht, wie Schmitt behauptet, Gegensätze, sondern komplementäre Ergänzungsstücke derselben liberaldemokratischen Staats- und Verfassungslehre.
Diese Sieyes-Umdeutung wirkt ideengeschichtlich bis in die Gegenwart nach: Die politische und wissenschaftliche Elite der Bundesrepublik war im Jahr 1989 überwiegend der Meinung, dass es eines verfassunggebenden Aktes seitens der Bürger nicht bedürfe, um die Fortgeltung des Grundgesetzes im vereinigten Deutschland zu legitimieren. Nur vereinzelt wurde angemerkt, dass die Verfahrensvorschrift des Art. 146 diesen Weg nicht nur erlaubt, sondern sogar nahe legt. Stattdessen griff man auf die schon 1949 bewährte Konstruktion zurück: Insofern die Bürger bei der ersten Bundestagswahl nach der Vereinigung mit überwältigender Mehrheit verfassungskonforme Parteien gewählt hätten, wäre damit zugleich auch ihr Willen zur unveränderten Fortgeltung des Grundgesetzes bekundet worden. Prekärerweise hatte schon Carl Schmitt dieses Modell der ‚Verfassunggebung‘ durch (vermeintliches) konkludentes (Zustimmung signalisierendes) Verhalten der Untertanen als vollgültiges Äquivalent eines demokratischen Verfassungswandels durch Gesetzgebung seitens der Bürger gewertet. Unbefriedigend ist diese Legitimationskonstruktion allein schon deswegen, weil der verfassunggebende Wille des Volkes nicht in Abstimmungen ermittelt, sondern diesem von den politischen bzw. juristischen Eliten zugeschrieben wurde. Die Legitimationsgrundlage des als demokratisch ausgegebenen Verfassungswandels ist demnach kein empirischer, sondern ein hypothetischer Wille. Für prekär halte ich diese Konstruktion aber auch deswegen, weil Carl Schmitt alles andere als ein prozeduraler Demokrat war. Für ihn war vielmehr die Diktatur die optimale Form demokratischer Herrschaftslegitimation – dies jedenfalls dann, wenn sich deren Protagonisten, ohne auf erheblichen Widerspruch zu stoßen, auf die Idee der verfassunggebenden Gewalt des Volkes berufen konnten (dazu Thiele, Volkssouveränität, 166 ff.).
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