Damals bei uns daheim. Hans FalladaЧитать онлайн книгу.
an Reue, nicht an die Vermahnungen des Gefängnisgeistlichen. In dem einen oder andern Falle mochte solch ein Anlass zu einem Geständnis geführt haben, aber nur in Einzelfällen. Im Allgemeinen, meinte ich, müsse es geheimnisvoller, tiefer, im Labyrinth der Brust nächtlich verborgen zugegangen sein.
Ja, in dieser Richtung interessierte mich die Juristerei schon, aber das war ganz und gar nicht das, was Vater wollte. Er suchte mich für die andere Seite des Falles zu interessieren, nicht wie es zu einem Verbrechen gekommen war, sondern was ein Richter nun mit einem solchen Verbrechen anzufangen hat, damit sollte ich mich beschäftigen! Nahm Vater an unserm häuslichen Mittagessen teil, was durchaus nicht immer der Fall war, da die Sitzungen seines Strafsenates sich oft von morgens bis in die tiefe Nacht hinzogen, so pflegte er uns Kindern gerne sogenannte Doktorfragen vorzulegen, an denen wir unsern Scharfsinn üben sollten. Doktorfragen waren eine Art juristischer Rätsel mit listigen Fallen, passte man nicht gut auf, dachte nicht scharf nach, so konnte man sich niederträchtig blamieren.
Vater war ein glänzender Plauderer, im Fontane-Stil etwa, trug er uns etwas Derartiges vor, so hielt er uns alles trocken Lehrhafte fern. Es machte großen Spaß, ihm zuzuhören. Mit zwei Sätzen etwa belehrte er uns Kinder über die strafgesetzlichen Bestimmungen wegen Mundraub, dass, wer Lebens- oder Genussmittel zum sofortigen Verzehr stiehlt, nur wegen einer leichten Übertretung gestraft wird. Wer aber eine Kiste Apfelsinen statt drei Stück nimmt, ein Vergehen begangen hat, das mit Gefängnis bestraft werden muss.
Und nachdem Vater so einen Grund bei uns gelegt hatte, ließ er schon einen Stromer am frühesten Morgen in ein Städtchen einrücken. Den Stromer peinigt ein schändlicher Durst, aber nicht von der Sorte, die ein Stadtbrunnen stillen kann.
Doch da kommt der Mann an einem Café vorüber, alle Fenster stehen auf, die Frauen sind beim Reinemachen und Aufräumen. Auf einem Marmortischchen am Fenster steht eine Flasche, das Schild verrät, es ist eine Kognakflasche, und sie scheint noch recht angenehm gefüllt. Der Stromer wagt den Griff, schon ist die Flasche in seiner Hand, und er stürzt mit ihr in den nächsten dunklen Torweg, setzt sie an die Lippen und tut einen kräftigen Zug.
Aber mit einem Fluch sprudelt er das Getränk wieder aus: das Schild hat gelogen, nicht Kognak, sondern Petroleum war in der Flasche!
»Nun, meine Kinder, gebraucht euern Scharfsinn! War dies nun ein Mundraub oder nicht? Wie hat der Richter zu erkennen? Auf der einen Seite erfüllt Petroleum keinesfalls den Wortlaut des Paragraphen, denn Petroleum ist weder ein Genuss- noch ein Nahrungsmittel. Andrerseits wäre die Flasche von dem Stromer nicht fortgenommen worden, hätte ihn nicht das Schild mit dem Worte ›Kognak‹ verlockt. Wie denkt ihr?«
Da saßen wir dann mit nachdenklichen Gesichtern, und jedes überbot das andere an Scharfsinn. Ich aber war stolz, wenn Vater meiner Entscheidung, es sei doch ein Mundraub, da die Absicht des Täters entscheidend sei, beipflichtete. Ich war stolz, trotzdem ich diese Art Rätselraten, wobei mit dem Wortlaut des Paragraphen jongliert wurde, eigentlich etwas stupide fand.
Nie vergaß ich das Wort, das einmal einer meiner Lehrer gesagt hatte, der Juristenberuf sei der einzige unter allen Berufen, der überhaupt keine neuen Werte schaffe, der völlig unproduktiv sei. Der Richter müsse sich sein ganzes Leben lang damit begnügen, über Vergangenes zu urteilen: was schon tot ist, der Richter trägt’s zu Grabe. Vergangenes lässt er noch vergangener werden …
Ich war damals noch zu jung, um einzusehen, wie ungerecht und falsch eine solche Beurteilung des Richterstandes war. Denn das Recht ist nichts Totes und Starres, es wandelt sich mit dem Gedeihen seiner Völker, es lebt ihr Leben mit. Es erkrankt, wie ein Volk erkranken kann, und es erreicht seine höchste Blüte in harten Notzeiten wie auch in glücklichen Tagen. Recht ist etwas Lebendiges, und zu allen Zeiten hat es besonders in unserm Volk Richter gegeben, die durch eine einzige Entscheidung alte Zöpfe abschnitten und dem Leben ihres Volkes dadurch neue Möglichkeiten eröffneten.
Ich war nur ein dummer Junge, und vor allem war ich nicht frei von der Neigung aller Kinder, die jeden Beruf erstrebenswert finden, nur nicht den des Vaters. Trotzdem ich nie mit Vater von solchen Dingen sprach, fühlte er nur zu gut, dass seine Hoffnungen auf Fortsetzung der Juristentradition bei mir auf Sand gegründet waren. Aber darum ließ er nicht nach in seinen Bemühungen, mich immer wieder für seinen Lieblingsberuf zu interessieren. Vater hatte eine unendliche Geduld.
Danach kann es nur den krassen Außenseiter überraschen, dass ein so begeisterter Jurist wie mein Vater es strikte ablehnte, je in eigener Sache einen Prozess zu führen. Er wusste da zwei Sprüchlein: »Ein magerer Vergleich ist besser als ein fetter Prozess« und »Wer einen Prozess führt um eine Kuh, gibt noch die zweite dazu!«
Heiter pflegte er zu sagen: »Wenn jetzt ein Mann in mein Zimmer kommt und zu mir spricht: Aber, Herr Kammergerichtsrat, die Lampe da an der Decke, diese messingne Krone, die gehört mir und nicht Ihnen! Geben Sie mir die mal schnellstens heraus! – Dann würde ich diesem Manne zu beweisen suchen, dass diese Krone schon seit sechzehn Jahren in meiner Wohnung hängt, dass ich sie dort und dort gekauft habe, und ich würde sogar versuchen, die alte quittierte Rechnung wiederzufinden. Sollte sich der Mann aber uneinsichtig zeigen und sollte er sich gar zu der Drohung versteigen: Sie geben die Lampe her, Herr Kammergerichtsrat, oder ich hänge Ihnen einen Prozess an! – so würde ich zu ihm sprechen: Lieber Mann, Sie dürfen gerne meine Krone mitnehmen. Sie ist mir den Frieden meines Hauses wert. – Denn –« setzte mein Vater milde lächelnd hinzu, »denn ich bin ein alter Richter und weiß, dass Prozesse Menschenfresser sind. Sie verschlingen nicht nur Geld, Glück, Frieden, sie verschlingen auch oft die Prozessierenden mit Haut und Haar.«
Oder aber mein Vater erzählte vergnügt von einem alten Amtsrichter im Hannöverschen, bei dem er als Assessor fungiert hatte. Zur damaligen Zeit lag es dem Richter noch ob, vor Beleidigungsklagen einen Sühnetermin abzuhalten. Jeder Richter weiß es, wie verhasst solche Termine und Prozesse sind, wie sich aller menschliche Unflat, der sonst in dunklen Winkeln verborgen liegt, dann in der Gerichtsstube breitmacht, mit einem üblen Geruch, der dem Richter mehr als diesen einen Tag vergällen kann.
Jener alte Amtsrichter nun hatte eine einzig dastehende Art, die streitenden Parteien zu einem Vergleich zu bringen. Er war ein Mann, der nicht nur die Wärme, sondern noch mehr die Hitze liebte, er hätte ganz gut einen der drei Männer aus dem feurigen Ofen abgeben können.
Stand nun ein solcher Sühnetermin an, so befahl er dem Gerichtsdiener, sei es nun Sommer oder Winter, den riesigen Kachelofen im Gerichtszimmer gewaltig zu heizen. Um diesen Kachelofen lief eine lange Ofenbank, und auf diese Ofenbank setzte der Richter die streitenden Parteien recht hübsch nebeneinander und ermahnte sie, ehe es zur Verhandlung komme, sich noch einmal alles gründlich zu überlegen, er habe noch ein Weilchen in seinen Akten zu tun.
Damit vertiefte sich der Richter in sein Aktenstudium, tat aber von Zeit zu Zeit einen listigen raschen Blick auf die Parteien, freute sich, wenn sie an der glühenden Ofenwand unruhig hin und her zu wetzen anfingen, wenn ihre Gesichter immer röter wurden und sich mit Schweiß bedeckten, und scheuchte Unruhige, die auf und ab zu wandeln begannen, mit einem Wort auf ihren Platz zurück.
Schienen ihm dann die armen Sünder genügend angebraten, so hob der Richter den Kopf und fragte, ob sie sich alles gut überlegt hätten und ob sie sich nicht doch lieber vergleichen wollten. Stieß er auf ein Nein, so sagte er gutmütig: »Nun, die Sache ist wohl noch nicht spruchreif, überlegt es euch noch ein bisschen!«
Und von neuem verschwand er hinter seinen Akten. In besonders hartnäckigen Fällen wurde auch noch nach dem Gerichtsdiener geschellt und Nachheizen im Ofen befohlen, denn es sei so bodenkalt in der Stube und er, der Richter, leide an kalten Füßen. Aber solch ein äußerster Schritt war nur selten notwendig, und mein Vater versicherte, während der Amtsdauer dieses Richters sei es nie zur Erhebung einer Beleidigungsklage gekommen. Ja, als sich die Praxis des Richters erst in seinem Bezirk herumgesprochen hatte, seien sogar die Sühnetermine selten geworden, denn es lohne sich ja doch nicht, um einen »Esel« oder eine »Sau« vor Gericht zu gehen, man müsse doch immer vergleichen!
Zu meinem derart über Prozesse in eigener Sache denkenden Vater kam eines Tages ein Onkel von mir, der Oberstleutnant a. D. Albert von Rosen, der in einer ansehnlichen Villa in einem Harzstädtchen mit seinem Eheweib, der Schwester meines Vaters, die alten Tage recht angenehm