Gesammelte Werke von Arthur Schnitzler. Артур ШницлерЧитать онлайн книгу.
sie starrten nach; keiner sprach ein Wort. Ich hatte mich im Flur umgewandt, stieg die Treppe hinab, schritt aus dem Hause und ging in einer sehr trüben Stimmung daran, mein übriges Tagewerk zu vollbringen. Kurz nach Mittag kehrte ich in das Unglückshaus zurück; ich fand die Verletzte, wie ich sie verlassen, bewußtlos, ziemlich schwer atmend. Die Wartefrau erzählte mir, daß unterdessen die Gerichtskommission dagewesen und den Tatbestand aufgenommen habe. Es war so dunkel in dem Zimmer, daß ich eine Kerze anzünden und auf das Nachttischchen am Kopfende des Bettes stellen ließ… Welch ein unendliches Leiden lag auf diesem sterbenden Antlitz. Ich richtete eine Frage an die Kranke. Sie wurde unruhig, stöhnte und öffnete die Augen ein wenig. Zu sprechen vermochte sie nicht. Nachdem ich das Nötige verordnet, entfernte ich mich… Abends, als ich hinaufkam, schien sich die arme Frau etwas wohler zu befinden. Sie antwortete auf meine Frage, wie es ihr gehe: »Besser…« und versuchte zu lächeln. Gleich aber versank sie wieder in die frühere Bewußtlosigkeit…
Sechs Uhr morgens! –
Nach Mitternacht – eben als ich die letzte Zeile in mein Tagebuch eingetragen – wurde heftig geklingelt… Frau Martha Eberlein – dies war der Name der Schwerverletzten – verlangte nach mir. Irgendein Junge aus dem Hause war hergeschickt worden; ich sollte gleich zu ihr, gleich, gleich… Ob sie im Fieber liege, ob es zu Ende gehe…? Er wußte nichts; jedenfalls sei es höchst dringend.
Ich folgte dem Jungen auf dem Fuße, und mit meiner chirurgischen Handtasche versehen, eilte ich die Treppe des Hauses hinauf, während der Junge unten stehenblieb, ein Wachsstöckchen in der Hand haltend, um mir zu leuchten. Die letzt Stufen lagen schon tief im Dunkel, nur am Anfang des Weges geleitete mich ein matter, flackernder Schein. Doch aus der halboffenen Wohnungstür der Kranken fiel mir ein Lichtstreif entgegen. Ich trat ein und durch den Vorraum, der auch die Küche vorstellte, in das Hofzimmer. Die Wartefrau war aufgestanden, als sie meine Schritte hörte, und kam mir entgegen. »Was gibt’s?« flüsterte ich… »Sie will Sie durchaus sprechen, Herr Doktor!« sagte das Weib.
Ich stand schon beim Bette; die Kranke lag regungslos da; ihre Augen waren weit geöffnet; sie sah mich an. Leise sagte sie: »Danke, Herr Doktor – danke!« – Ich ergriff ihre Hand; der Puls war nicht gerade schlecht. Ich schlug den fröhlichen Ton an, den wir ja immer in der Kehle haben müssen, auch wenn es uns nicht danach zumute ist. »Also, besser geht es, wie ich sehe, Frau Eberlein, das ist sehr erfreulich!«
Sie lächelte. »Ja, besser – und ich habe mit Ihnen zu sprechen…«
»So?« fragte ich – »lassen Sie hören!«
»Mit Ihnen allein!« –
»Ruhen Sie eine Weile aus!« wandte ich mich an die Wartefrau.
»Draußen!« sagte die Kranke.
Die Wartefrau sah mich noch einmal fragend an, worauf sie ging, die Türe leise hinter sich schließend. Ich war allein mit der Kranken.
»Bitte!« sagte diese, mit den Augen auf einen Stuhl weisend, der am Fußende des Bettes stand. Ich ließ mich nieder, ihre Hand in der meinen behaltend, und rückte näher, um sie besser verstehen zu können.
Sie sprach ziemlich leise. »Ich war so frei, Herr Doktor«, begann sie – »denn es ist sehr notwendig, daß ich Sie spreche!«
»Was wünschen Sie, meine Liebe?« frug ich… »Strengen Sie sich nur nicht allzusehr an!«
»O nein… es sind nur ein paar Worte… Sie müssen ihn befreien, Herr Doktor!«
»Wen?«
»Meinen Sohn – ihn!«
»Meine liebe Frau Eberlein«, erwiderte ich bewegt… »Sie wissen wohl, das steht nicht in meiner Macht!«
»Oh, es steht in Ihrer Macht, wenn es eine Gerechtigkeit gibt…«
»Ich bitte Sie recht sehr… versuchen Sie sich nicht aufzuregen… Ich fühle wohl, daß Sie mich für Ihren Freund halten, und ich danke Ihnen dafür; ich bin aber auch Ihr Arzt und darf Ihnen ein bißchen befehlen. Nicht? – Also Ruhe! Vor allem Ruhe!«
»Ruhe…« wiederholte sie, und schmerzlich zuckte es ihr um Augen und Mund… »Herr Doktor – Sie müssen mich anhören… es lastet so schwer auf mir!«
Auf meinem schweigenden Antlitz glaubte sie eine Aufforderung zum Sprechen zu lesen, und meine Hand fest drückend, begann sie:
»Er ist unschuldig – oder doch weniger schuldig, als es die Leute ahnen können. Ich bin eine schlechte, eine elende Mutter gewesen…«
»Sie?«
»Ja, ich… eine Verbrecherin war ich!«
»Frau Eberlein!«
»Gleich werden Sie mich verstehen… Ich bin nicht Frau Eberlein… ich bin Fräulein Martha Eberlein… Man hält mich nur für eine Witwe… Ich habe nichts dazu getan, um die Leute zu täuschen, aber ich konnte diese alten Geschichten doch nicht jedermann erzählen…«
»Nun ja, das darf Sie doch heute nicht mehr so entsetzlich quälen!«
»Oh, nicht das! Es sind zwanzig Jahre, daß ich verlassen wurde… verlassen, noch bevor er zur Welt kam, er, mein und sein Sohn. Und da… es ist nur der reine Zufall, daß er lebt, denn, Herr Doktor… ich hab’ ihn umbringen wollen in der ersten Nacht!… Ja, schaun Sie mich nur so an!… Allein und verzweifelt stand ich da… Aber ich will mich nicht reinwaschen… Ich nahm Decken und Linnenzeug und legte es über ihn und dachte, er werde ersticken… Dann in der Früh’ nahm ich furchtsam die Decken wieder weg… und er wimmerte! Ja, er wimmerte – und atmete – und lebte!« Sie weinte, die arme Frau. Mir selber versagten die Worte. Sie aber fuhr nach einem kurzen Schweigen fort:
»… Und er sah mich an mit großen Augen und wimmerte in einem fort! Und ich, vor diesem kleinen Ding, das noch keinen Tag alt war, mußte ich erbeben… Ich weiß noch genau, daß ich es vielleicht eine Stunde lang anstarrte und dachte: Welch ein Vorwurf liegt in diesen Augen! Und vielleicht hat es dich verstanden und klagt dich an! Und vielleicht hat es ein Gedächtnis und wird dich immer, immer anklagen… Und es wurde größer, das kleine Ding – und in den großen Kinderaugen immer derselbe Vorwurf. Wenn es mir mit den Händchen ins Gesicht fuhr, dachte ich: ja,… es wird dich kratzen, es will sich rächen, denn es erinnert sich an jene erste Nacht seines Lebens, wo du es unter Decken vergrubst…! – Und er begann zu lallen, zu sprechen. Ich hatte Angst vor dem Tage, wo er wirklich würde sprechen können. Aber das kam so allmählich – so allmählich. – Und immer wartete ich – immer, wenn er den Mund aufmachte, wartete ich: jetzt wird er es dir sagen. Ja, ja, er wird es dir sagen, daß er sich nicht täuschen läßt, daß all die Küsse, all die Liebkosungen, all die Liebe dich nicht zur wahren Mutter machen können. Er wehrte sich, er ließ sich nicht küssen, er war ungebärdig, er liebte mich nicht… Ich ließ mich schlagen von dem fünfjährigen Buben, und auch später noch ließ ich mich schlagen und lächelte… Ich hatte eine wahnsinnige Sehnsucht, meine Schuld loszuwerden, und wußte doch, daß es nimmer ginge! Konnt’ ich’s denn jemals sühnen?… Und, wenn er mich ansah, immer mit denselben fürchterlichen Augen…! Als er älter wurde, in die Schule ging, da wurde es mir vollends klar, daß er mich durchschaute… Und alles nahm ich reuig hin… Ach, er war kein gutes Kind… aber… ich konnte ihm nicht böse sein! Böse! oh, ich liebte ihn, liebte ihn bis zum Wahnsinn… Und mehr als einmal sank ich hin vor ihn, küßte seine Hände – seine Knie – seine Füße! – Oh, er verzieh mir nicht. – Kein Blick der Liebe, kein freundliches Lächeln… ! Er wurde zehn, zwölf Jahre alt; er haßte mich! – In der Schule tat er kein gut… Eines Tages kam er nach Hause mit trotzigen Worten: ›Es ist aus mit der Schule, sie wollen mich dort nicht mehr haben…‹ Oh, wie ich damals erbebte. Ich wollte ihn ein Handwerk lernen lassen – ich bat, ich flehte – er blieb starr – er wollte nichts von der Arbeit wissen. Er trieb sich herum… Was konnte ich ihm sagen – was ihm vorwerfen? Ein Blick von ihm machte all meinen Mut zunichte Wie zitterte ich vor dem Tage, wo er mir’s ins Gesicht sagen würde: ›Mutter, Mutter! Du hast das Recht auf mich verwirkt!‹ – Aber er sprach es nicht aus… Manchmal, wenn er trunken nach Hause