Gesammelte Werke von Arthur Schnitzler. Артур ШницлерЧитать онлайн книгу.
geöffnet die müden Lider, und ahnungsvolle Schauer rannen ihm durch Herz und Adern. Der schwindelnde Abgrund stand ihm immer und immer vor Augen, der ihm den einzigen Weg ins Leben zurück bedeutete, er, der sonst seines Schrittes sich überall sicher gedünkt hatte, fühlte in seiner Seele nie gekannte Zweifel aufbeben und immer peinvoller wühlen, bis er sie nicht länger ertragen konnte und beschloß, lieber gleich das Unvermeidliche zu wagen, als in Qual der Ungewißheit den Tag zu erwarten. Und wieder erhob er sich zu dem vermessenen Versuch, ohne den Segen der Helle, nur mit seinem tastenden Tritt des gefährlichen Weges Meister zu werden. Kaum aber hatte er den Fuß in die Finsternis gesetzt, so war ihm wie ein unwiderrufliches Urteil bewußt, daß sich nun in kürzester Frist sein geweissagtes Schicksal erfüllen mußte. Und in düsterem Zorn rief er in die Lüfte: »Unsichtbarer Geist, der mich dreimal gewarnt, dem ich dreimal nicht geglaubt habe und dem ich nun doch als dem Stärkeren mich beuge – ehe du mich vernichtest, gib dich mir zu erkennen.«
Und es klang durch die Nacht, umklammernd nah und unergründlich fern zugleich: »Erkannt hat mich kein Sterblicher noch, der Namen hab’ ich viele. Bestimmung nennen mich die Abergläubischen, die Toren Zufall und die Frommen Gott. Denen aber, die sich die Weisen dünken, bin ich die Kraft, die am Anfang aller Tage war und weiter wirkt unaufhaltsam in die Ewigkeit durch alles Geschehen.«
»So fluch’ ich dir in meinem letzten Augenblick,« rief der Jüngling, mit der Bitterkeit des Todes im Herzen. »Denn bist du die Kraft, die am Anfang aller Tage war und weiter wirkt in die Ewigkeit durch alles Geschehen, dann mußte ja all dies kommen, wie es kam, dann mußt’ ich den Wald durchschreiten, um einen Mord zu begehen, mußte über diese Wiese wandern, um mein Vaterland zu verderben, mußte den Felsen erklimmen, um meinen Untergang zu finden – deiner Warnung zum Trotz. Warum also war ich verurteilt, sie zu hören, dreimal, die mir doch nichts nützen durfte? Mußte auch dies sein? Und warum, o Hohn über allem Hohn, muß ich noch im letzten Augenblick mein ohnmächtiges Warum dir entgegenwimmern?«
Da war dem Jüngling, als fliehe an den Rändern des unsichtbaren Himmels, von ungeheurer Antwort schwer und ernst, ein unbegreifliches Lachen hin. Doch wie er versuchte, ins Weite zu horchen, wankte und glitt der Boden unter seinem Fuß, und schon stürzte er hinab, tiefer als Millionen Abgründe tief – in ein Dunkel, darin alle Nächte lauerten, die gekommen sind und kommen werden vom Anbeginn bis zum Ende der Welten.
Die Frau des Richters
Nach zweiunddreißigjähriger Regierung, im siebenundfünfzigsten Jahre seines Lebens, wurde Karl Eberhard XVI., Herzog von Sigmaringen, im Hause der Gartenmägdlein, und zwar dem Gerüchte nach in den Armen des allerjüngsten, von einem plötzlichen Tode ereilt. Haus der Gartenmägdlein, so nämlich wurde im Volke das Jagdschloß Karolslust genannt, das, drei Wagenstunden von der Residenz und kaum eine halbe von dem Landstädtchen Karolsmarkt entfernt, innerhalb weitgedehnter Waldungen gelegen war, und in dem die herzoglicher Gunst sich erfreuenden Mädchen oder Frauen – stets zehn bis fünfzehn an der Zahl – ein zwar sorgenfreies, aber im übrigen höchst eingeschränktes Leben führten.
6 Für den Fall seines plötzlichen Hinscheidens hatte der Herzog schon vor längerer Zeit die Verfügung getroffen, daß sämtliche Gartenmägdlein, mit Geldmitteln ausreichend versehen, unverzüglich aus dem Schlosse zu entfernen und über die nahe Grenze zu bringen wären. Daher stand nach getreuer Ausführung des Befehls durch die des Gehorchens gewöhnten Verwalter und Hofbediensteten nicht nur das Residenzschloß Sigmaringen, sondern auch Karolslust schon wenige Tage nach dem Tode des Herzogs zum Empfange des neuen Herrn bereit, der, wie allgemein bekannt war, Art und Wandel seines Vaters stets mißbilligt und, seit Eintritt seiner Mündigkeit immer auf Reisen, das Herzogtum, das er später regieren sollte, schon drei Jahre lang nicht mehr betreten hatte. So war er von der Trauernachricht in Paris ereilt worden, wo er nicht nur in höfischen und adligen Kreisen wohl aufgenommen war, sondern auch, mehr den Hohn als die Erbitterung seines Vaters herausfordernd, mit Gelehrten und 7 Schriftstellern, darunter mit den berühmten Enzyklopädisten Diderot und Baron von Grimm, persönlichen Verkehr gepflogen hatte.
Der verstorbene Herzog, in jungen Jahren beim Volk ziemlich verhaßt gewesen, hatte seinen Untertanen längst keinen Anlaß zu ernstlicher Klage mehr gegeben. Im Genusse großer Einkünfte aus dem Erbe seiner früh dahingeschiedenen, mit dem unermeßlich reichen polnischen Fürstengeschlecht der Poniatowski verschwägerten Gattin, durfte er darauf verzichten, das Volk mit Steuern und Abgaben über Gebühr zu belasten, und hatte sich’s, insbesondere in den letzten Jahren, an den Vergnügungen der Jagd und an der Gesellschaft seiner Gartenmägdlein so völlig genügen lassen, daß ihm für politische und soldatische Spielereien keine Zeit übriggeblieben war. Obwohl sich’s daher in dem kleinen Lande, das ein rüstiger Fußgänger in sieben Tagen umwandern mochte, behaglicher und ungefährdeter leben ließ als in manchem anderen deutschen Fürstentum, fehlte es auch 8 hier nicht an Unzufriedenen und Aufmuckern, deren manche sich zuweilen kecker äußerten als ihre Gleichgesinnten in anderen Ländern, wo eine allzu freie oder gar aufrührerische Rede nicht nur dem Sprecher, sondern wohl auch dem Zuhörer hätte übel geraten können.
Als der verwegenste Schwätzer im Fürstentum, ja überhaupt als ein bedenklicher Geselle, galt ein gewisser Tobias Klenk, der immer wieder, auch wenn man ihn schon für alle Zeit losgeworden zu sein glaubte, in seinem Geburtsstädtchen Karolsmarkt auftauchte, wo seine Mutter, eine Schlosserswitwe, zurückgezogen und in dürftigen Umständen lebte. Ihre beiden Zwillingstöchter, Brigitte und Maria, hatten schon als Sechzehnjährige, keineswegs ohne Zustimmung der Mutter, im Hause der Gartenmägdlein Aufnahme gefunden, wo es ihnen gar nicht übel erging, um so weniger, als sie beide, durch die nachbarlichen Umstände begünstigt, öfters Gelegenheit hatten, auf halbe 9 oder ganze Tage zu entweichen und das ärmliche Haus der Mutter mit Backwerk und Wein zu versehen; daran mitzunaschen und mitzutrinken der Bruder Tobias, wenn auch unter allerlei höhnischen Reden, keineswegs verschmähte. Doch schon zehn Jahre vor dem plötzlichen Hinscheiden des Herzogs waren sie aus dem Lustschlößchen und zugleich aus dem Lande geflohen, ohne von ihrer Mutter oder sonst irgendeinem Menschen Abschied zu nehmen.
Geraume Zeit nach ihrem Verschwinden überbrachte ein unbekannter Reisender der alternden Frau Grüße ihrer Töchter aus Rom, wo diese in zweideutigen, aber gesicherten Verhältnissen zu leben schienen; sowie ein ansehnliches Geldgeschenk. Solches wiederholte sich einige Male im Lauf der Jahre, nur daß die Grüße und Gaben stets von einem anderen Reisenden überbracht wurden, – bis endlich auch dies ein Ende nahm und die Zwillingsschwestern für alle Zukunft verschollen blieben.
10 Ihr Bruder Tobias aber erschien in gemessenen Abständen immer wieder in seinem Heimatsort, ohne daß man je gewußt hätte, woher und warum; wie auch er selbst sich über seine Weltfahrten und sonstigen Umstände nur obenhin und in unklaren Andeutungen auszulassen liebte. Jedenfalls war er weit herumgekommen, hatte trotz mangelnder Vorbildung an verschiedenen deutschen Universitäten studiert und randaliert, später – niemand wußte, unter welchem Feldherrn und auf welchen Kriegsschauplätzen – als Soldat gefochten, war mit einem jungen Baron in Spanien, Portugal und England als Reisebegleiter oder Hofmeister umhergezogen und in allerlei mehr oder minder ehrenvolle Händel verwickelt gewesen, wobei er öfters mit der Polizei und den Gerichten, wohl auch mit den Gefängnissen nähere Bekanntschaft gemacht haben sollte. Noch etliche Jahre vor dem Tod des alten Herzogs war er sehr vornehm, fast kavaliermäßig angetan, in Karolsmarkt aufgetaucht, hatte seiner Mutter 11 Leinenzeug und Tuch aus Holland, sowie ein Halbdutzend silberne Teller mitgebracht, an der Tafel beim Goldenen Ochsen eine Woche lang alle Bekannten freigehalten, und war eines Abends mittels einer alten Kutsche, in der eine nicht mehr ganz junge, reichgekleidete Dame saß, aus dem Wirtshaus abgeholt worden; seither aber war er von einem Mal zum anderen in immer verschlissenerem Gewand, in immer verdrossener Laune und mit trotzdem immer loserem Maul – stets nur zu kurzem Aufenthalt – in Karolsmarkt aufgetaucht; – und so hatte es sich gefügt, daß er gerade an dem Tage, da man den alten Herzog in der Gruft seiner Ahnen beisetzte, in schlimmerem Zustand als je, beinahe zerlumpt, in Karolsmarkt eingetroffen war, und sich nun als dreiunddreißigjähriger Mensch anschickte, seiner alten Mutter, die sich längst auch von dem