Gesammelte Werke von Arthur Schnitzler. Артур ШницлерЧитать онлайн книгу.
zu Hause?« Auch Gräsler trat zum Geländer hin und blickte hinab. Die Frau unten auf dem Stiegengang, deren Züge im Halbdunkel verschwammen, hob die Arme wie zu einem Retter empor. »Gott sei Dank! Nicht wahr, Herr Doktor, Sie kommen gleich? Das Kind … ich weiß nicht, was mit ihm ist.«
142 »Ich – ich komme, selbstverständlich. Nur eine Minute bitte sich zu gedulden. Ich will auch gleich das Thermometer mitbringen; eine Minute, gnädige Frau –«
»Danke,« flüsterte es herauf, während Doktor Gräsler die Tür hinter sich schloß. Er trat rasch in das Zimmer, wo Katharina erwartungsvoll stehend, an den Tisch gelehnt, ihm entgegenblickte. Er war von tiefer Zärtlichkeit für sie erfüllt, um so mehr, als er sie früher in einem so schnöden Verdacht gehabt hatte. Sie erschien ihm rührend, engelhaft geradezu. Er trat auf sie zu und strich ihr über das Haar. »Wir haben kein Glück,« sagte er, »ich vielmehr. Denk dir, da werde ich soeben zu einem kranken Kind gerufen hier im Hause, ich kann natürlich meine Hilfeleistung nicht verweigern. So bleibt mir leider nichts anderes übrig, als dich zu einem Wagen zu bringen.« –
Sie ergriff seine Hand, die noch immer auf ihrem Kopf ruhte. »Du schickst mich fort?« – »Nicht gern, das kannst du mir glauben. Oder – oder würdest du am Ende auf mich warten wollen?« 143 – Sie streichelte seine Hand. »Wenn’s nicht gar zu lange dauert?« –»Jedenfalls will ich mich beeilen. Du bist sehr, sehr lieb.« Er küßte sie auf die Stirn, holte rasch aus seinem Arbeitszimmer die schwarze Instrumententasche, die stets zur Benützung bereit lag, ermahnte Katharina, sich’s indes schmecken zu lassen, sah sich von der Tür aus nochmals nach ihr um, die ihm freundlich zunickte, dann eilte er die Treppe hinunter in der beglückenden Voraussicht, nach seiner Wiederkehr aus dem düstern Ernst seines Berufs von einem holdseligen jungen Ding liebevoll empfangen zu werden.
Frau Sommer saß am Bett ihres Kindes, das sich fieberisch hin und her wälzte, als Doktor Gräsler eintrat. Er nahm, nach ein paar einleitenden Fragen und Bemerkungen, an der kleinen Kranken eine sorgfältige Untersuchung vor, nach deren Abschluß er sich genötigt sah, die Vermutung auszusprechen, daß ein Ausschlag zum Ausbruch kommen dürfte. Die Mutter gebärdete sich wie verzweifelt. Ein Kind hätte sie schon vor drei Jahren verloren, ihr Gatte war vor einem 144 halben Jahr auf einer Geschäftsreise in der Fremde gestorben; ja, sie hatte nicht einmal sein Grab gesehen. Was sollte nur aus ihr werden, wenn ihr nun das letzte geraubt würde, was ihr geblieben war. Doktor Gräsler erklärte, daß vorläufig kein Anlaß zu Befürchtungen vorläge, daß es vielleicht mit einer einfachen Halsentzündung sein Bewenden haben, daß aber ein so wohlgenährtes, kräftiges Kind auch einer ernsteren Krankheit genügenden Widerstand entgegensetzen könnte. So wußte er noch allerlei Beschwichtigendes vorzubringen und merkte mit Befriedigung, daß seine vernünftigen Worte ihre Wirkung auf die Mutter nicht verfehlten. Er verordnete das Nötige; das Dienstmädchen wurde in die nahe Apotheke geschickt: indes verweilte Gräsler am Krankenbette, von Minute zu Minute den Puls des Kindes fühlend, und öfters dessen heiße trockene Stirn berührend, wo seine Hand zuweilen der der besorgten Mutter begegnete. Nach längerem Schweigen begann diese von neuem ängstliche Fragen zu flüstern, der Arzt faßte väterlich ihre Hände, sprach ihr gütig zu, 145 mußte daran denken, daß Sabine nun wohl mit ihm zufrieden wäre, und merkte zugleich im grünlich matten Schein der verhängten Deckenlampe, daß das leicht fließende Hauskleid der jungen Witfrau sehr anmutige Formen barg. Als das Mädchen wiederkam, erhob er sich und wiederholte, was er schon beim Eintreten beiläufig erwähnt hatte, daß er die weitere Behandlung des Kindes zu übernehmen leider nicht in der Lage sei, da er schon in den nächsten Tagen abreisen müsse. Die Mutter beschwor ihn, mindestens so lange der Arzt des Kindes zu bleiben, als er noch in der Stadt verweile. Sie habe zu böse Erfahrungen mit den Ärzten hier am Ort gemacht, zu ihm aber habe sie sofort das rückhaltloseste Vertrauen gefaßt; und wenn irgendeiner, das fühle sie, sei er imstande, ihr das geliebte Kind zu retten. So blieb ihm denn nichts anderes übrig, als vorläufig für den nächsten Morgen seinen Besuch in Aussicht zu stellen, und, nachdem er noch eine Weile still beobachtend am Krankenlager des Kindes gestanden hatte, das jetzt ruhiger atmete, drückte er der Mutter herzlich die Hand und 146 empfahl sich, gefolgt von ihren dankbar heißen Blicken.
Rasch eilte er ins zweite Stockwerk, schloß seine Wohnung auf und trat ins Speisezimmer, das er leer fand. Sie hat rasch die Geduld verloren, dachte er bei sich. Das war zu erwarten. Vielleicht ist es gut so, da das Kind unten doch wohl eine ansteckende Krankheit bekommen wird. Das ist ihr wohl auch durch den Kopf gegangen. Freilich, Sabine wäre in einem solchen Fall nicht geflohen. Immerhin hat sie sich’s vorher noch schmecken lassen. Er betrachtete den Tisch mit den Resten des Mahls, und seine Lippen zuckten verächtlich. Es wäre keine üble Idee, sagte er sich dann, sich nochmals in den ersten Stock zu bemühen und der hübschen Witwe Gesellschaft zu leisten. Er empfand, daß er bei ihr, in dieser Stunde noch, am Bette des fiebernden Kindes erreichen könnte, was er nur wollte, und war von der Verworfenheit dieses Einfalls nicht unangenehm durchschauert. »Aber ich geh’ ja doch nicht hinab,« sagte er dann vor sich hin, »ich bin und bleibe ein Philister, was mir Sabine diesmal 147 vielleicht sogar verzeihen würde.« Die Tür ins Arbeitszimmer stand offen. Er trat hinein und machte Licht. Natürlich war Katharina auch hier nicht. Er drehte wieder ab; dann merkte er, wie durch den Türspalt aus dem Schlafzimmer ein Lichtschein drang. Eine leise Hoffnung in ihm regte sich. Er zögerte; denn jedenfalls tat es wohl, sich eine Weile an dieser Hoffnung zu erwärmen. Nun hörte er von drinnen ein Rascheln und Knittern. Er öffnete die Tür. Da lag Katharina oder saß vielmehr aufrecht in seinem Bett und sah von einem dicken Buche auf, das sie auf der Decke in beiden Händen hielt. »Du bist doch nicht böse,« sagte sie einfach. Ihre braunen, leicht gelockten Haare rannen aufgelöst über ihre blassen Schultern. Wie schön sie war! Gräsler stand noch immer in der Tür, ohne sich zu regen. Er lächelte; denn das Buch, das auf der Decke ruhte, war der anatomische Atlas. »Was hast du dir denn da ausgesucht?« fragte er, mit einiger Befangenheit näher tretend. »Es ist auf deinem Schreibtisch gelegen. Hätt’ ich nicht sollen? Verzeih! Aber sonst wär’ ich 148 vielleicht eingeschlafen, und da bin ich nicht wach zu kriegen.« Ihre Augen lächelten, ganz ohne Spott, – hingebungsvoll beinahe. Gräsler setzte sich zu ihr aufs Bett, zog sie an sich, küßte sie auf den Hals, und das schwere Buch klappte zu.
11.
Am nächsten Morgen, während Doktor Gräsler seine kleine Patientin besuchte, bei der sich der Scharlach indes mit Entschiedenheit erklärt hatte, war Katharina aus seiner Wohnung verschwunden, erschien aber schon in früher Abendstunde und, zu Gräslers Verwunderung, mit einem kleinen Koffer wieder. Sie hatte wohl in der vergangenen Nacht erwähnt, daß ihr alljährlich eine Woche Urlaub zustünde, wovon sie in diesem Sommer, wie in ahnender Voraussicht, keinen Gebrauch gemacht hätte; und er, im Rausch der ersten Umarmungen, hatte sie daraufhin zu einer kleinen Hochzeitsreise eingeladen; – aber als sie ihm nun so gerüstet mit den heiteren Worten 149 entgegentrat. »Da bin ich; wenn du willst, können wir gleich auf die Bahn fahren,« wehrte sich in ihm etwas gegen diese Art, so ohne weiteres von seinem Dasein Besitz zu ergreifen, und er war beinahe froh, auf die ärztliche Verpflichtung hinweisen zu können, die ihn für die nächsten Tage in der Stadt festhielt. Katharina schien darüber nicht sonderlich betrübt, plauderte gleich von anderen Dingen, machte ihn auf ihre hübschen, neuen, gelben Halbschuhe aufmerksam, erzählte von dem Leiter ihrer Firma, der eben wieder mit neuer Ware von Paris und London zurückgekommen sei, ging dabei im Zimmer hin und her, stellte ein paar Bücher in die Reihen und brachte den Schreibtisch in Ordnung, während Gräsler, am Fenster stehend, schweigsam und irgendwie gerührt ihrem Treiben zusah. Sein Blick fiel auf das Kofferchen, das trübselig und wie beschämt auf dem Fußboden stand, und ein leises Mitleid regte sich in ihm, daß das gute Ding wieder damit abziehen sollte. Zunächst vermied er es, etwas in diesem Sinne zu äußern; später aber, als er auf seinem Schreibtischsessel, und sie 150 wie ein Kind, die Arme um seinen Hals geschlungen, ihm auf dem Schoße saß, sagte er: »Muß es denn eben eine Reise sein? Willst du deinen Urlaub nicht einfach hier in meinem Haus verbringen?« – »Das wird doch wohl nicht möglich sein,« erwiderte sie schwach. – »Warum nicht? Ist’s denn hier nicht wunderschön?« Er deutete durchs Fenster