Semmering 1912. Peter AltenbergЧитать онлайн книгу.
die mit dem Ausspruche: „ein ganz nettes Kind, nichts weiter“, ihre künstlerische Unfähigkeit klar erweisen. Merkwürdigerweise funktionieren so brutal-verallgemeinernd fast alle Väter, die immer nur den Herrn Hofrat wittern, der einst, in der Ferne, erscheinen soll und zu dem Kindchen sagen soll: „Du bist mein alles!“ Daß das gar kein Kompliment sein wird für das Töchterchen, spüren sie nicht! Du bist mein alles, ja, aber wessen alles, darauf kommt es an! Viele Mütter hingegen haben eine künstlerische melancholische Zärtlichkeit. Sie teilen das Leben ihres Kindchens in „interessante, spannende, merkwürdige Lebenskapitel“ ein, sind selbst äußerst gespannt, wie der Roman enden werde, während die Väter ein biblisches Dogma aufstellen, über das das Leben jedoch nur ein flüchtiges Lächeln hat. Mütter wissen, wie ihr Kindchen geht, steht, sitzt, wann es verlegen ist oder düster, Väter wissen höchstens, ob es „Stuhl“ gehabt habe, und das wissen sie nicht einmal. Ein schreckliches Wort leitet sie durchs ganze Leben ihres Kindes, das Wort „gediegen“. Alles soll „gediegen“ sein, die Lehrer, die Gouvernanten, der „Zukünftige“, der „Charakter“. Das ganze kommt mir vor, wie das Wort „gediegenes Gold“, das auszusprechen schon eine Art Berauschungsmittel ist! Ich glaube nicht, daß Eleonora Duse, Sarah Bernhardt, Yvette Guilbert, Fanny Elsler, Adelina Patti, Bird Millman, Barbarina Campanini sehr „gediegen“ waren, jedesfalls war es eine höchst nebensächliche Eigenschaft dieser Damen, deren Väter jedesfalls auch nur sich „Gediegenheit“ erwünscht hatten für ihre Töchterchen! Mütter „beobachten“ das Leben ihrer Kinder, Väter schreiben es ihnen vor! Sie sind selbst durch Beruf, Sorge, Eitelkeit, Ehrgeiz, Konkurrenz, Rücksichten Geknechtete des Daseins, erwünschen dasselbe daher ihren Sprößlingen. Künstlerisch empfindsame Mütter hingegen trauern um ihr eigenes Lebensgefängnis, möchten ihren geliebten Töchterchen den weißen Flug gönnen ins „romantische Land“!
PLAUDEREI
Ausspruch eines fünfjährigen Mädels:
„Wenn man alleweil brav ist, wissen die Leut’ dann gar nicht, ob man noch auf der Welt ist!“
Die Eltern tragen mir ununterbrochen Anekdoten über ihre vergötterten Kindchen zu. Sie sind tief überzeugt davon, daß es gerade mich interessiere! Ich interessiere mich auch wirklich dafür, daß sie alle so tief überzeugt davon sind, daß ich mich dafür interessiere! Denn diesen schönen Schein zu erwecken, heißt eben ein Dichter sein! Und als das möchte man doch gerne gelten, wenn man schon weder Beruf noch Geld hat, nicht?!?
„Mein Knabe sagte mir gestern“, „mein Mäderl sagte mir vorgestern“, höre ich alle Tage zehnmal. Ob eines dieser kleinen Mistviecherl einmal zu der reichen Mama den genialen Ausspruch täte:
„Mama, wenn du mich wirklich lieb hast, dann gibst du diesem entzückenden alten kranken Dichter eine Monatsrate von fünfzig Kronen — — —!“
Ausspruch eines sechsjährigen Mäderls beim Abschied vom Semmering: „Ach, wie werde ich fürder ohne meinen geliebten Pinkenkogel und Sonnwendstein existieren können?!“
Ich hätte gerne geantwortet: „Sehr gut wirst du fürder existieren können, indem ich dir fürder für jeden affektierten, verlogenen, manierierten Ausspruch deinen Hintern aushauen werde — — —!“
LIED OHNE REIME
Ihr Reichen,
hab’ ihr das Nachtmahl nicht bezahlen können im kleinen lieben Gasthaus — — —;
hab’ mein Mädel verlieren müssen — — —;
hab’ ihr ein Kleid für den Sonntagausgang nicht schenken können — — —;
hab’ ihrem Bruder nicht ewig Zigarren kaufen können — — —;
hab’ ihrer Schwester die Krankheit nicht bezahlen können — — —;
hab’ ihrem Vater seinen Vierteljahrszins nicht geben können;
hab’ mein Mädel nicht in den „Zirkus Schumann“ führen können — — —;
und sie schwärmt doch so für edle Pferde — — —;
da hat einer zu ihr gesagt: „Ich gebe dreihundert Kronen monatlich und die Kostüme“ — — —;
Ihr Reichen!
Hab’ mein Mädel verlieren müssen — — —;
kann nur mehr Kleinigkeiten schenken,
zum Namenstag, zum Geburtstag und zu Weihnachten — — —.
FORELLENFANG
75 Kilometer lang ist das gesamte Gebirgswasser in Naßwald. Es ist flaschengrün, weiß und graugrün; es steht mäuschenstill in winzigen Felsbuchten, es schäumt bösartig weiß, es zieht gemächlich graugrün über flachen Kiesboden. Hinter jedem Stein eine Forelle! Kein Stein ohne Forelle dahinter, es wäre denn, daß sie gerade weggeangelt wurde. Hinter jedem Stein also lauert der heimtückische Insektenmörder. Plötzlich wird er von der Angelrute herausgeschnellt im Bogen. Man sieht etwas herrliches Silbernes und schon liegt es auf der Wiese. Man schlägt es an dem Fußabsatz ab, wenn es ein Regenwurmfang war, setzt es in den Bottich, wenn es ein Kunstfliegenfang war. Es gibt berühmte Kunstfliegenangler. Ihre Kunst besteht darin, die Kunstfliege so auf das Wasser hinzuwerfen, daß es wie eine echte aussieht. Das ist ja im Leben überhaupt oft so. So wird man berühmt. Man wirft den Köder aus, und — — die Forelle nimmt es für eine echte, und man hat sie! Forellenangeln und Naturfreund sein, ist eines! Denn man muß wandern, wandern von Stein zu Stein. Hinter jedem hockt eben eine. Und diese Wanderung befriedigt nur, wenn man die umgebende Natur herzlich lieb hat. Der Hecht verlangt keine Naturfreude vom Angler. Er steht irgendwo und man hat zu warten. Man wartet, wartet, bis das Ereignis eintritt. Dann beginnt die Geschicklichkeit. Aber mit der Natur hat es nichts zu tun. Es ist nur aufregend.
Der Forellenfänger liebt das Gebirgswasser leidenschaftlich, er vergißt darüber Weib und Kind, oft sogar das Essen. Er versenkt sich in die Details der Umgebung, ein einziges Zeichen wirklichen Genießens! Denn „in Bausch und Bogen“ ist es brutal und wertlos! Er zieht dahin, von Stein zu Stein, er sieht alles, alles. Und wenn er ermüdet heimkehrt mit seiner reichen Beute, glaubt er etwas geleistet zu haben. Ja, denn er hat sich sogar einen urgesunden tiefen Schlaf verschafft!
SO WURDE ICH
Ich saß im 34. Jahre meines gottlosen Lebens, Details kann eine Tageszeitung unmöglich bringen, ich saß im Café Central, Wien, Herrengasse, in einem Raume mit gepreßten englischen Goldtapeten. Vor mir hatte ich das „Extrablatt“ mit der Photographie eines auf dem Wege zur Klavierstunde für immer entschwundenen fünfzehnjährigen Mädchens. Sie hieß Johanna W. Ich schrieb auf Quartpapier infolgedessen, tieferschüttert, meine Skizze „Lokale Chronik“. Da traten Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten, Richard Beer-Hofmann, Hermann Bahr ein. Arthur Schnitzler sagte zu mir: „Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie dichten!? Sie schreiben da auf Quartpapier, vor sich ein Porträt, das ist verdächtig!“ Und er nahm meine Skizze „Lokale Chronik“ an sich. Richard Beer-Hofmann veranstaltete nächsten Sonntag ein „literarisches Souper“ und las zum Dessert diese Skizze vor. Drei Tage später schrieb mir Hermann Bahr: „Habe bei Herrn Richard Beer-Hofmann Ihre Skizze vorlesen gehört über ein verschwundenes fünfzehnjähriges