Gesammelte Werke von Gustave Flaubert. Гюстав ФлоберЧитать онлайн книгу.
dachte Emma bei sich. ›Wie häßlich das Kind ist!‹
Als Karl um elf Uhr nach Hause kam – er war nach Tisch zum Apotheker gegangen – ,fand er seine Frau an der Wiege stehen.
»Aber ich habe dir doch gesagt, daß es nichts ist!« versicherte er ihr, indem er ihr einen Kuß auf die Stirn gab. »Ängstige dich nicht, armes Lieb, du wirst mir sonst krank!«
Er war lange beim Apotheker geblieben. Er hatte sich zwar gar nicht besonders aufgeregt gezeigt, trotzdem hatte sich Homais für verpflichtet gefühlt, ihn ›aufzurappeln‹. Dann hatte man von den tausend Gefahren gesprochen, denen kleine Kinder ausgesetzt sind, und von der Unachtsamkeit der Dienstboten. Frau Homais mußte ein Lied davon zu singen. Noch heute hatte sie auf der Brust ein Brandmal: auf diese Stelle hatte die damalige Köchin einmal die Kohlenpfanne fallen lassen! Infolgedessen waren die braven Homais über die Maßen vorsichtig. Die Tischmesser wurden nicht geschliffen und der Fußboden nicht gebohnt. Vor den Fenstern waren eiserne Gitter und vor dem Kamin ein paar Querstäbe angebracht. Die Apothekerskinder, so verwahrlost sie im übrigen waren, konnten keinen Schritt tun, ohne daß jemand dabei sein mußte. Bei der geringsten Erkältung stopfte sie der Vater mit Hustenbonbons voll, und als sie bereits über vier Jahre alt waren, mußten sie ohne Gnade noch dickgepolsterte Fallringe um die Köpfe tragen. Das war lediglich eine Schrulle der Mutter; der Apotheker war insgeheim sehr betrübt darüber, weil er Angst hatte, dieses Zusammenpressen könne dem Gehirn schädlich sein. Einmal entfuhr es ihm:
»Willst du denn Hottentotten aus deinen Kindern machen?«
Karl hatte etliche Male den Versuch gemacht, die Unterhaltung in eine andre Richtung zu bringen. Beim Gehen, als Leo vor ihm die Treppe hinunterstieg, raunte er ihm leise zu:
»Ich wollte Sie noch etwas fragen!«
›Sollte er etwas gemerkt haben?‹ fragte sich der Adjunkt. Er bekam Herzklopfen und verlor sich in tausend Vermutungen.
Als die Türe hinter ihnen geschlossen war, bat Karl, er solle sich doch einmal in Rouen danach erkundigen, was ein hübsches Lichtbild koste. Er hegte nämlich schon lange den sentimentalen Plan, seine Frau mit dieser zarten Aufmerksamkeit zu überraschen. Er gedachte sich im schwarzen Rocke verewigen zu lassen. Nur wollte er vorher wissen, wieviel die Geschichte so ungefähr zu stehen käme. Dem Adjunkt mache das wohl keine besondre Mühe, da er doch beinahe aller acht Tage nach der Stadt führe.
Zu welchem Zwecke eigentlich? Homais vermutete Junggesellenabenteuer oder eine Liebschaft. Aber da täuschte er sich. Leo hatte keine galanten Beziehungen. Mehr denn je war er in Wertherstimmung. Die Löwenwirtin merkte es daran, daß er seine Portionen nicht mehr aufaß. Um hinter die Ursache zu kommen, fragte sie Binet; aber der Steuereinnehmer erwiderte unwirsch, er sei kein Polizeibüttel.
Allerdings kam Leo auch seinem Tischgenossen recht sonderbar vor. Oft lehnte er sich in seinen Stuhl zurück, packte sich mit den Händen hinten am Kopfe und ließ sich in unbestimmten Klagen über das menschliche Dasein aus.
»Sie sollten sich ein bißchen mehr zerstreuen«, meinte der Steuereinnehmer.
»Womit denn?«
»Na, an Ihrer Stelle schaffte ich mir eine Drehbank an.«
»Aber ich kann doch nicht drechseln«, erwiderte der Adjunkt.
»Ach ja, freilich!«
Binet strich sich selbstzufrieden-verächtlich das Kinn.
Leo war es müde, erfolglos zu lieben. Das eintönige Leben begann ihn abzustumpfen; er hatte keine Interessen, die ihn erfüllten, keine Hoffnungen, die ihn stärkten. Yonville und die Yonviller ödeten ihn dermaßen an, daß er gewisse Leute und bestimmte Häuser nicht mehr erblicken konnte, ohne in Wut zu geraten. Besonders unausstehlich wurde ihm nachgerade der biedere Apotheker. Gleichwohl schreckte ihn die Aussicht auf völlig neue Verhältnisse genau so sehr, wie er sich danach sehnte. Dieses bange Gefühl wandelte sich nach und nach in Unruhe, und nun lockte ihn Paris, das ferne Paris mit der rauschenden Musik seiner Maskenfeste und dem Lachen seiner Grisetten. Er sollte daselbst sowieso sein Studium vollenden. Warum ging er nicht endlich dahin? Was hielt ihn zurück?
In Gedanken fing er nun an, seine Vorbereitungen zu treffen. Er machte heimliche Pläne. Er träumte sich sein Pariser Zimmer aus. Dort wollte er das Leben eines Bohémien führen. Gitarre wollte er spielen lernen, einen Schlafrock tragen, dazu ein Samtbarett und Hausschuhe aus blauem Plüsch. Und über dem Kamin sollten zwei gekreuzte Floretts hängen, ein Totenschädel darüber und die Gitarre darunter. Wundervoll!
Das Schwierige war nur, die Einwilligung seiner Mutter zu bekommen. Aber im Grunde war sein Plan doch der allervernünftigste! Sogar sein Chef redete ihm zu, sich in einer andern Kanzlei weiter auszubilden. So entschied sich Leo zunächst zu einem Mittelding. Er bewarb sich um einen Adjunktenposten in Rouen. Als ihm dies mißlang, schrieb er schließlich seiner Mutter einen langen Brief, in dem er ihr ausführlich auseinandersetzte, warum er ohne weiteres nach Paris übersiedeln wollte. Sie war damit einverstanden.
Trotz alledem beeilte er sich keineswegs. Volle vier Wochen lang gingen von Yonville nach Rouen und von Rouen nach Yonville Koffer, Rucksäcke und Pakete für ihn hin und her. Er vervollständigte seine Garderobe, ließ seine drei Lehnstühle aufpolstern, schaffte sich einen Vorrat von seidnen Halstüchern an, kurz und gut, er traf Vorbereitungen, als wolle er eine Reise um die Welt antreten. So verstrich Woche auf Woche, bis ein zweiter mütterlicher Brief seine Abreise beschleunigte. Er hätte doch die Absicht, ein Examen nach einem Semester zu machen.
Als der Augenblick des Abschieds gekommen war, da weinte Frau Homais, Justin heulte, und Homais verbarg seine Rührung, wie sich das für einen ernsten Mann schickt. Er ließ es sich jedoch nicht nehmen, den Mantel seines Freundes eigenhändig bis zur Gartenpforte des Notars zu tragen, wo des letzteren Kutsche wartete, die den Scheidenden nach Rouen fahren sollte.
Im letzten Viertelstündchen machte Leo seinen Abschiedsbesuch im Hause des Arztes.
Als er die Treppe hinaufgestiegen war, blieb er stehen, um Atem zu schöpfen. Bei seinem Eintritt kam ihm Frau Bovary lebhaft entgegen.
»Da bin ich noch einmal!« sagte Leo.
»Ich hab es erwartet!«
Emma biß sich auf die Unterlippe. Eine Blutwelle schoß unter der Haut ihres Gesichts hin und färbte es über und über rot, vom Halskragen an bis hinauf zu den Haarwurzeln. Sie blieb stehen und lehnte die Schulter gegen die Holztäfelung.
»Ihr Herr Gemahl ist wohl nicht zu Hause?«
»Er ist fort.«
Dann trat Schweigen ein. Sie sahen sich beide an, und ihre Gedanken, von gleichem Bangen durchwoben, schmiegten sich aneinander wie zwei klopfende Herzen.
»Ich möchte Berta gern einen Abschiedskuß geben«, sagte Leo.
Emma ging hinaus, ein paar Stufen hinunter, und rief Felicie. Leo warf schnell einen heißen Blick auf die Wände, die Möbel, den Kamin, als wollte er alles umfassen, alles mit sich nehmen. Aber da war sie auch schon wieder im Zimmer. Das Mädchen brachte die kleine Berta, die einen Hampelmann an einem Faden in der Hand hielt, verkehrt, den Kopf nach unten.
Leo küßte die Kleine ein paarmal auf die Stirn.
»Lebwohl, armes Kind! Lebwohl, liebes Bertchen! Lebwohl!«
Er gab das Kind der Mutter zurück.
»Bring sie weg!« befahl Emma.
Sie waren wiederum allein.
Frau Bovary wandte Leo den Rücken zu und preßte ihr Gesicht gegen eine Fensterscheibe. Er hielt seine Reisemütze in der Hand und schlug damit leise gegen seinen Schenkel.
»Es wird wohl regnen«, bemerkte Emma.
»Ich habe einen Mantel«, antwortete er.
»So!«
Sie wandte sich wieder um, das Kinn gesenkt. Das Licht glitt über ihre vorgebeugte Stirn wie über glatten Marmor bis hinab in die Augenbrauen. Man konnte nicht sehen,