Gesammelte Werke von Gustave Flaubert. Гюстав ФлоберЧитать онлайн книгу.
und schaffen neue Beziehungen, neues Leben. Unsre großen Industriezentren sind von neuem in vollster Tätigkeit. Die Religion ist gekräftigt und wärmt wieder aller Herzen. Unsre Häfen strotzen, der Staatskredit ist fest. Frankreich atmet endlich wieder auf….«
»Das heißt,« sagte Rudolf, »vom gesellschaftlichen Standpunkt hat man vielleicht recht.«
»Wie meinen Sie das?« fragte sie.
»Wissen Sie denn nicht,« erläuterte er, »daß es problematische Naturen gibt? Halb Träumer, halb Tatenmenschen? Heute leben sie den hehrsten Idealen und morgen den wildesten Genüssen. Nichts ist ihnen zu toll, zu phantastisch….«
Sie blickte ihn an, wie man einen Polarfahrer anschaut. Dann sagte sie:
»Uns armen Frauen dagegen, uns sind die Freuden solcher Kontraste verboten!«
»Schöne Freuden!« entgegnete er bitter. »Das Glück liegt wo ganz anders!«
»Ach, so findet mans nirgends?«
»Doch! Eines Tages begegnet man dem Glück!« flüsterte er.
»Und das wissen Sie alle gerade am besten,« fuhr der Regierungsrat fort, »Sie, die Sie Landwirte und Landarbeiter sind, friedliche Vorkämpfer eines Kulturideals, Männer des Fortschrittes und der Ordnung! Sie wissen das, sage ich, daß politische Stürme weit furchtbarer sind denn Stürme in der Natur….«
»Ja, eines Tages begegnet man ihm!« wiederholte Rudolf, »ganz unerwartet, gerade wenn man alle Hoffnung verloren hat! Dann öffnet sich der Himmel, und es ist einem, als riefe eine Stimme: ‘Hier ist das Glück!’ Und dem Menschen, den Sie da gefunden haben, dem müssen Sie aus innerm Drange heraus ihr Leben anvertrauen, ihm alles geben, alles opfern! Es werden keine Worte gewechselt. Alles ist nur Ahnung, Gefühl! Man hat sich ja längst im Traumland gesehen….«
Er blickte Emma an.
»Endlich ist er da, der Schatz, den man so lange gesucht hat, leibhaftig da! Er glänzt und strahlt! Noch immer hält man ihn für ein Traumbild. Man wagt nicht, an ihn zu glauben. Man ist geblendet, als käme man plötzlich aus der Nacht in die Sonne….«
Rudolf begleitete seine Worte mit Gebärden. Er preßte die Rechte auf sein Gesicht wie jemand, dem es schwindelt. Dann ließ er sie auf Emmas Hand sinken. Sie zog sie weg.
Der Rat sprach immer weiter:
»Wen könnte das auch verwundern, meine Herren? Höchstens Leute, die so blind wären, so verbohrt (ich scheue mich nicht, dieses Wort zu gebrauchen!), so verbohrt in die Vorurteile abgetaner Zeiten, daß sie die Gesinnung der Landwirte noch immer verkennen. Wo findet man, frage ich, mehr Patriotismus als auf dem Lande? Wo mehr Opferfreudigkeit in Dingen des Gemeinwohls? Mit einem Worte: wo mehr Intelligenz? Meine Herren, ich meine natürlich nicht jene oberflächliche Intelligenz, mit der sich müßige Geister brüsten, nein, ich meine die gründliche und maßvolle Intelligenz, die sich nur mit ersprießlichen Absichten betätigt und damit dem Vorteile des Einzelnen wie der Förderung der Allgemeinheit dient und eine Stütze des Staates ist, durchdrungen von der Achtung vor den Gesetzen und dem Gefühle der Pflichterfüllung….«
»Pflichterfüllung!« wiederholte Rudolf. »Immer und überall die Pflicht! Wie mich dieses Wort anwidert! Ein Chor von alten Schafsköpfen in Schlafröcken und von Betschwestern mit Wärmbullen und Gesangbüchern krächzt uns ewig die alte Litanei vor: ‘Die Pflicht, die Pflicht!’ Der Teufel soll sie holen! Unsre Pflicht ist es, alles Große in der Welt mitzufühlen, das Schöne anzubeten und sich nicht immer gleich unter alle möglichen gesellschaftlichen Konvenienzen zu ducken, sich nicht zu Sklaven herabwürdigen zu lassen….«
»Indessen … indessen …«, wandte Emma ein.
»Nein, nein! Warum immer gegen die Leidenschaften kämpfen? Sind sie nicht vielmehr das Allerschönste, was es auf Erden gibt, der Quell des Heldensinns, der Begeisterung, der Dichtung, der Musik, aller Künste, alles Lebens im wahren Sinne?«
»Aber man muß sich doch ein wenig nach den Leuten richten und sich ihrer Moral fügen«, meinte Emma.
»So! Das ist dann eben die doppelte Moral,« eiferte er. »Die eine: die kleinliche, herkömmliche, die der Leute, die in einem fort ein andres Gesicht zieht, immer Ach und Weh schreit, im trüben fischt und auf dem Erdboden kriecht. Das ist die all der versammelten Troddel da unten. Und die andre: die göttliche, die um uns ist und über uns wie die Landschaft, die uns umprangt, und der blaue Himmel, der über uns leuchtet….«
Lieuvain wischte sich den Mund mit dem Taschentuche, dann sprach er weiter:
»Soll ich Ihnen, meine Herren, den Nutzen der Landwirtschaft hier noch im einzelnen darlegen? Wer sorgt für unser täglich Brot? Wer schafft uns die Unterhaltungsmittel? Tut es nicht der Landmann? Er und kein anderer? Meine Herren, dem Landmann, der mit seiner schwieligen Hand das Saatkorn in die fruchtbringenden Furchen sät, verdanken wir das Getreide, das dann, von sinnreichen Maschinen zu Mehl gemahlen, in die Städte zu den Bäckern kommt, die Brot daraus backen für arm und reich! Ist es nicht der Landmann, der auf den Weiden die Schafherden hütet, damit wir Kleider haben? Wie sollten wir uns anziehen, wie uns nähren, ohne die Landwirtschaft? Aber, meine Herren, wir brauchen gar nicht so weit zu gehen. Hat nicht jeder von uns schon manchmal über die Bedeutung jenes bescheidenen Tierchens nachgedacht, das die Zierde unserer Bauernhöfe ist und uns gleichzeitig ein weiches Kopfkissen, einen saftigen Braten für unsern Tisch und die Eier schenkt? Ich käme nicht zu Ende, wenn ich alle die andern verschiedenen Erzeugnisse lückenlos aufzählen müßte, mit denen die wohlbebaute Erde wie eine großmütige Mutter ihre Kinder überschüttet. Ich nenne nur den Weinstock, den Baum, der uns den Apfelwein spendet, und den Raps. Dann haben wir den Käse und den Flachs. Meine Herren, vergessen wir den Flachs nicht! Der Flachsbau hat in den letzten Jahren einen bedeutenden Aufschwung genommen, auf den ich Ihre Aufmerksamkeit ganz besonders hinlenken möchte….«
Dieser Appell war eigentlich unnötig, denn die Menge lauschte offenen Mundes und ließ sich kein Wörtchen entgehen. Der Bürgermeister, der zur Seite des Redners saß, horchte mit aufgerissenen Augen. Derozerays schloß die seinen hin und wieder voller Andacht. Und der Apotheker, der seinen Platz etwas weiter weg hatte, hielt sich eine Hand ans Ohr, um Silbe für Silbe ordentlich zu verstehen. Die übrigen Preisrichter nickten bedächtig mit den gesenkten Häuptern, um ihre Zustimmung zu erkennen zu geben. Die Feuerwehr stützte sich auf ihre Gewehre, und Binet stand immer noch stramm da im Stillgestanden und mit vorschriftsmäßiger Säbelhaltung. Hören konnte er vielleicht, aber sehen nicht, weil ihm die Blende seines Helms bis über die Nase reichte. Sein Leutnant, der jüngste Sohn des Bürgermeisters, hatte einen noch größeren auf. Dieses Ungetüm wackelte ihm fortwährend auf dem Kopfe hin und her. Überdies sah der Zipfel eines seidnen Tuches hervor, das er untergestopft hatte. Er lächelte wie ein artiges Kind unter dem Helme hervor, und sein schmales blasses Gesicht, über das Schweißtropfen rannen, verriet zugleich helle Freude und müde Abspannung.
Der Marktplatz war bis an die Häuser heran voller Menschen. In allen Fenstern erblickte man Leute, ebenso auf allen Türschwellen. Vor dem Schaufenster der Apotheke stand Justin, ganz versunken in das Schauspiel vor seinen Augen. Trotzdem um den Redner herum Stille herrschte, verlor sich seine Stimme doch bereits in einiger Entfernung im Winde. Nur einzelne abgerissene Worte drangen weiter, von denen das Geräusch hin-und hergerückter Stühle auch noch einen Teil verschlang. Noch weiter weg vernahm man dicht hinter sich langgedehntes Rindergebrüll oder das Blöken der Schafe, die sich einander antworteten. Die Kuhjungen und Hirten hatten nämlich ihre Tiere inzwischen bis auf den Markt getrieben, wo sie sich nun von Zeit zu Zeit laut bemerkbar machten.
Rudolf war dicht an Emma herangerückt und flüsterte ihr hastig zu:
»Muß einen diese Tyrannei der Gesellschaft denn nicht zum Rebellen machen? Gibt es ein einziges Gefühl, das sie nicht verdammt? Die edelsten Triebe, die reinsten Neigungen werden von ihr verfolgt und verleumdet, und wenn sich zwei arme Herzen trotz alledem finden, so verbündet sich alles, damit sie einander nicht gehören können. Aber sie werden es dennoch versuchen, sie regen ihre Flügel, und sie rufen sich. Früher oder später, in sieben Monaten oder in sieben Jahren, sind sie doch vereint in ihrer Liebe,