Der Hinduismus. Gottfried HierzenbergerЧитать онлайн книгу.
Die Wurzeln des Hinduismus
In der Illustrated London News vom 20. September 1924 veröffentlichte John Marshall einen Bericht über Funde im unteren Industal bei Mohenjo Daro, die auf die Existenz einer uralten, bisher unbekannten Kultur im Industal schließen lassen. 1931 erschien dann sein vollständiger Bericht »Mohenjo-daro and the Indus Culture I–III«. Nach der Veröffentlichung neuer Grabungsergebnisse durch Stuart Piggott (»Prehistoric India«, 1950), die auch Funde einbezog, die bereits 1856 beim Bau der Eisenbahnlinie Karachi – Lahore bei Harappa am Ravi-Fluss, im Bereich des oberen Indus, gemacht, aber damals in ihrer Bedeutung nicht erkannt wurden, war klar, dass man eine um tausend Jahre ältere Kultur in Indien nachgewiesen hatte, als vorher bekannt war.
Frühe Induskulturen
Die beiden voll ausgegrabenen Städte zeigen eine einheitliche Bauplanung, was auf eine Zentralverwaltung des Harappischen Reiches schließen lässt; die Städte besitzen ein richtiges Straßennetz mit Haupt- und Nebenstraßen, von denen wieder Gassen abzweigen, durch die Häuserblocks entstehen. Die Häuser sind aus gebrannten Lehmziegeln gebaut.
Auf burgartigen Erhöhungen gibt es in beiden Städten je ein zitadellenartiges Bauwerk, das wahrscheinlich als Tempel mit Nebengebäuden anzusehen ist und aus sehr dicken – an die Megalithkultur erinnernden – Felsmauern besteht. Symmetrisch angelegte Treppen führen zu einem Doppeltor. Bedeutsam sind außerdem die vielen aufgefundenen Statuetten und Siegel aus Speckstein, Kalkstein und Alabaster mit Tierdarstellungen – z. B. auch mit dem später in Indien nachweisbaren Einhorn – sowie insgesamt elf Figuren bärtiger Männer in mantelartigen Gewändern, welche mit einem auffälligen Kleeblattmuster verziert sind; möglicherweise handelt es sich um Abbildungen der Priesterkönige dieser Indus- oder Harappakultur.
Leider haben wir keine Texte, die uns Aufschluss über die Religion dieser Frühzeit Indiens geben könnten. Dabei gibt es sogar schriftliche Zeugnisse – nämlich Schriftzeichen auf mehr als zweitausend ausgegrabenen Siegeln –, doch ist es bis heute nicht gelungen, diese Schrift zu entziffern, so dass man, gerade, was die Religion anlangt, weitgehend auf Mutmaßungen angewiesen bleibt. Es gibt allerdings doch ein wichtiges Indiz, das den Zusammenhang der Induskultur mit den Hindu-Religionen plausibel macht, und das ist die typische Sitzhaltung des Hindu-Yogi, die in keiner anderen Kultur aus dieser Zeit nachzuweisen ist – außer auf Abbildungen, die eindeutig zur Induskultur gehören.
Mohenjo Daro und Harappa waren vielleicht zwei Zentren einer erstaunlich weit ausgedehnten Kultur, denn es gibt mehr als 20 vergleichbare Fundstellen z. B. im Südwesten (Sutkagon) am Meer oder 1.500 km entfernt in der Nähe des oberen Ganges (Alamgirpur) im Jumna-Becken. Es ist ein Gebiet von etwa 1,3 Millionen qkm, das in Nordwestindien in der Zeit zwischen 2550 und 1750 v. Chr. zur Harappakultur gehörte.
Noch viel größer dürfte aber das Gebiet gewesen sein, auf dem sich bereits zwei oder drei Jahrtausende vorher eine Vorharappische Kultur ausgebildet hatte. Darüber wurde man sich klar, als im Quettatal in Ostbelutschistan – also an den südöstlichen Ausläufern des iranischen Hochlandes, westlich des Indus – Überreste megalithischer Bauten gefunden wurden – eine Art von Zikkurats (= Stufentürme) und Überreste von mehr als hundert Gebäuden und – nachdem man zu den Fundamenten dieser Gebäude vorgedrungen war – großformatige kreisförmige Steinformationen (Zeremonienplätze?) und Steinstraßen, die erkennen lassen, dass es dort schon lange vor Mohenjo Daro und Harappa eine hochentwickelte Kultur gab.
Diese Funde in Belutschistan lassen zwar noch viele Fragen offen, zeigen aber doch deutlich, dass es sich auch hier schon um eine Stadtkultur gehandelt haben muss und dass es damals Kontakte zu den großen Stadtkulturen im Vorderen Orient gab, was deutliche Übereinstimmungen gewisser Details an Geräten und anderen Fundobjekten über Tausende Kilometer hinweg mit vergleichbaren Funden in Mesopotamien nahe legen. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Agrarkultur bzw. um eine Fruchtbarkeitsreligion, was viele aufgefundene Figuren schwangerer Göttinnen nahe legen.
Wie alle ältesten Städte wurden auch die vorharappischen »im Umkreis von Heiligtümern erbaut, bzw. in der Nähe eines ›Weltmittelpunktes‹, an dem man die Kommunikation zwischen Erde, Himmel und Unterwelt für möglich hielt«. (M. Eliade)
Die reichen Funde und die Vergleiche, die man anstellte, ließen darüber hinaus den Schluss zu, dass der Übergang von der vorharappischen zur harappischen Kultur fließend gewesen sein dürfte, während die harappische Kultur plötzlich abbrach. In der jüngsten Schicht sowohl in Mohenjo Daro wie in Harappa fand man nämlich viele Skelette von Männern, Frauen und Kindern, die offensichtlich eines gewaltsamen Todes gestorben waren und nicht – wie in älteren Schichten – (rituell) begraben wurden. Man fand bei diesen Skeletten Kupferstreitäxte mit einem in der harappischen und vorharappischen Kultur unbekannten Schaftansatz, der auf indoarische Formen verweist, so dass man daraus schließt, dass sie Opfer der im 18. Jh. v. Ch. erfolgenden arischen Invasion in Indien geworden sein könnten. Dies sind aber nur Rückschlüsse aufgrund einiger weniger außergewöhnlicher Funde, die unter Umständen auch anders gedeutet werden können.
Leider wissen wir sehr wenig Konkretes vom Leben dieses Indusvolkes, das den Indern ihren Namen gegeben hat. Aus den zahlreichen Funden lässt sich ohne entschlüsselte schriftliche Zeugnisse nur mit einiger Wahrscheinlichkeit schließen, dass die Induskultur neben der Nilkultur in Ägypten und der Euphrat-/Tigriskultur Mesopotamiens als die dritte Wiege der Hochkulturen der Menschheit betrachtet werden kann und den Anfang der indischen Kultur und des Hinduismus darstellt.
Aus anthropologischer Perspektive scheinen fünf der sechs ethnischen Gruppen, aus denen die heutige Bevölkerung des indischen Subkontinents zusammengesetzt ist, schon im 3. Jahrtausend fest etabliert gewesen zu sein: »Die frühesten waren die Negritos, gefolgt von den Proto-Australoiden, den Drawiden oder Mittelmeermenschen, den Mongoloiden am Nord- und Nordostrand Indiens und den vor allem im Westen Indiens nachgewiesenen Brachycephalen. Ihre allmählich sich entwickelnden Siedlungen waren am Ende des 4. Jahrtausends weit über Sind, Belutschistan und Radschastan verstreut, und es begann schon eine Art von städtischem Leben […]. Die Indus-Kultur verschwand zwar ohne deutlich sichtbare Spuren, sie ist aber fast sicher mit dem Aufstieg der sechsten großen Volksgruppe Indiens verbunden, die wegen ihrer indoeuropäischen Sprachen gewöhnlich als die arische bekannt ist.« (G. Barraclough)
Die Arier erobern Indien
Das Auftauchen der Indoeuropäer (die man früher auch Indogermanen nannte) in der Geschichte ist von einer beispiellosen Expansionsdynamik in sprachlicher, kultureller, politischer und religiöser Hinsicht getragen – und sie ist von schweren Verwüstungen begleitet: Die Zerstörung von Troja um 2300 v. Chr. geht wohl ebenso auf ihr Konto wie die Vernichtung verschiedener befestigter Orte in Griechenland, in der Ägäis und in Mesopotamien, oder die Zerstörung von etwa 300 Städten und Siedlungen zwischen 2300 und 1900 v. Chr. in Anatolien. Etwa zweihundert Jahre später finden sich solche Gewaltspuren der Indoeuropäer – die in den schriftlichen Aufzeichnungen unter sehr verschiedenen Namen auftreten (z. B. als Hethiter, Luwier oder Mitanni) – auch in Belutschistan, im Bereich der südöstlichen Ausläufer des iranischen Hochlandes und im östlich anschließenden Indusgebiet, dessen nördlicher Teil (der heutige Pandschab) sapta sindhavah (= Sieben Flüsse) genannt wird.
Hier werden sie Arier (āriya = die Edlen) genannt, und etwa um 800 v. Chr. wird fast das gesamte riesige Vorderindien bereits von ihnen dominiert – darin wurzelt der in der Zeit des Nationalsozialismus geprägte Ausdruck arisieren. »Dieser charakteristische Vorgang – Wanderung, Eroberung neuer Gebiete, Unterwerfung der Bewohner, gefolgt von deren Assimilation – kam erst im 19. Jahrhundert unserer Zeitrechnung zum Stillstand. Diese weitgreifende sprachliche und kulturelle Expansion hat in der Geschichte nicht ihresgleichen« (M. Eliade).
Die ursprüngliche Heimat der Indoeuropäer liegt wahrscheinlich nördlich des Schwarzen Meeres zwischen den Karpaten und dem Kaukasus,