Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. СтендальЧитать онлайн книгу.
sie mit einemmal der gräßlichsten Herzensnot verfallen. Solche Qualen hätte sie für unmöglich gehalten. Sie verlor die Vernunft. Einen Augenblick hegte sie den Plan, ihrem Manne zu gestehen, daß sie fürchte, Julian zu lieben. Aber da hätte sie von ihm reden müssen. Zu ihrem Glück fiel ihr eine gute Lehre ein, die ihr die Tante am Tage vor der Hochzeit gegeben hatte: »Sei vorsichtig mit Geständnissen vor deinem Gatten! Alles in allem ist der Ehemann immer ein Tyrann.«
Im Wirrwarr ihres Leids rang sie die Hände. Sie ward zum Spielball der schmerzlichsten, konträrsten Wahngebilde. Bald fürchtete sie, nicht geliebt zu werden; bald wieder peinigte sie der Gedanke an Schuld und Schande. Es war ihr, als solle sie morgen auf dem Marktplatz von Verrières am Pranger stehen, ihr zu Häupten eine Tafel, die ihren Ehebruch aller Welt verkündete.
Frau von Rênal hatte nicht die geringste Lebenserfahrung, und so hätte sie selbst in normalem Zustand und im vollen Besitz ihres klaren Verstandes den Unterschied nicht herausgefunden zwischen einer nur vor dem höchsten Richter schuldigen Sünderin aus Leidenschaft und einer der allgemeinen Verachtung würdigen Dirne.
Zeitweise ließ der schreckliche Gedanke an den Ehebruch und die Verdammnis, die diesem Vergehen ihrem Glauben nach folgte, von ihr ab. Dann dachte sie daran, wie süß es sein müsse, mit Julian schuldlos weiterzuleben. Aber zugleich packte sie der qualvolle Verdacht, daß Julian eine andre liebe. Vor ihrem geistigen Auge stand er wieder da wie in jenem Augenblick, da er fürchtete, das Bild der Geliebten zu verlieren oder sie bloßzustellen, indem es in fremde Hände kam. Nie vordem hatte sie auf Julians edlem, immer ruhigem Gesicht Furcht und Angst entdeckt. Nie war er vor ihr oder ihren Kindern so erregt erschienen. In diesem Übermaß von Schmerz empfand sie allen Jammer, den es für ein Menschenherz nur geben kann. Ohne es zu wissen, stieß sie einen lauten Schrei aus, durch den ihre Kammerjungfer erwachte.
Plötzlich gewahrte sie vor ihrem Bett hellen Kerzenschein. Elise stand vor ihr.
In ihrem Irrsinn rief Frau von Rênal: »Liebt er dich denn?«
Die Jungfer war erstaunt, ihre Herrin in so sonderbarer Erregung zu überraschen, aber glücklicherweise war ihr die seltsame Frage entgangen.
Frau von Rênal ward sich ihrer Unbesonnenheit bewußt.
»Ich habe Fieber, Elise«, sagte sie. »Ich glaube, ich habe gar phantasiert. Bleibe bei mir!«
Gezwungen, auf sich zu achten, wurde sie völlig wach. Jetzt fühlte sie sich auch nicht mehr so unglücklich. Die Vernunft, die sie im Halbschlafe verloren, kam wieder zur Herrschaft. Um Elisens lauernde Blicke abzulenken, befahl sie ihr, aus der Zeitung vorzulesen.
Während die Jungfer mit eintöniger Stimme einen langen Aufsatz aus der Quotidienne herleierte, faßte Frau von Rênal den tugendsamen Entschluß, Julian mit eisiger Kälte zu behandeln, sobald sie ihn wiedersähe.
12. Kapitel
Am nächsten Morgen, bereits um fünf Uhr, noch ehe sich Frau von Rênal zeigte, hatte Julian von ihrem Manne einen dreitägigen Urlaub erhalten. Wider sein eignes Erwarten empfand er das Bedürfnis, sie noch zu sehen. Ihre hübsche Hand kam ihm in den Sinn. Er ging in den Garten hinunter. Frau von Rênal ließ lange auf sich warten; aber wenn Julian wirklich verliebt gewesen wäre, so hätte er erspäht, daß sie hinter der halbgeschlossenen Jalousie eines der Fenster im ersten Stock, die Stirn an die Scheibe gedrückt, nach ihm Ausschau hielt. Ungeachtet ihres Gelöbnisses entschloß sie sich schließlich, im Garten zu erscheinen. Ihre gewöhnliche Blässe war den lebhaftesten Farben gewichen. Die harmlose Frau war sichtlich erregt. Der Wille, sich zu beherrschen, und ein Anflug von Zorn hatten die Sonne ihres Madonnengesichts., die sonst hoch über den Alltagsdingen strahlte, verscheucht.
Julian schritt hastig auf sie zu. Bewundernd sah er ihre schönen Arme, die durch den eilig übergeworfenen dünnen Schal schimmerten. Ihre Haut, nach der aufgeregten Nacht gegen Licht und Luft empfindlicher denn je, leuchtete im frischen Morgen. Die schlichte Schönheit, die so viel inneres Leben verriet, ergriff Julian. Solche Frauen gab es im unteren Volke nicht. Er fühlte, daß eine Saite in seinem Herzen vibrierte, an die bis dahin nie etwas gerührt hatte. Versunken in den Anblick der Reize, an denen sich seine Augen gierig weideten, dachte er gar nicht daran, daß er einen freundlichen Empfang erwartet hatte. Dann aber war er über die eisige Kälte, die ihm unverkennbar zuteil ward, um so mehr betroffen, witterte er doch dahinter die Absicht, ihn in sein Plebejertum zurückzudrängen.
Das Lächeln der Lust erstarb auf seinen Lippen. Er erinnerte sich des Ranges, den er in der menschlichen Gesellschaft einnahm, insbesondere in den Augen dieser vornehmen und reichen Dame. Im Moment lebte in seinen Mienen nichts mehr denn Hochmut und Groll gegen sich selbst. Er empfand heftigen Verdruß, daß er seinen Aufbruch um mehr als eine Stunde hinausgeschoben hatte, um dafür einen so demütigenden Empfang zu ernten.
»Nur ein Tor ärgert sich über die Welt!« tröstete er sich. »Ein Stein fällt, dieweil er schwer ist! Soll ich ewig ein Kind bleiben? Wann werde ich endlich die treffliche Gewohnheit annehmen, diesen Leuten von meiner Seele nur gegen ihr Geld zu geben? Wenn ich will, daß sie – und damit auch ich – Respekt vor mir haben, dann muß ich ihnen begreiflich machen, daß ich armer Kerl zwar der Sklave ihres Mammons bin, daß ich mit meinem Herzen aber himmelhoch über ihrer frechen Selbstgefälligkeit throne, unsagbar erhaben über die armseligen Zeichen ihrer Gnade oder ihrer Geringschätzung.«
Während diese Gefühle in der Seele des jungen Lehrers wogten und wühlten, gewann sein zuckendes Gesicht die Mienen gekränkten Stolzes und wilder Empörung. Frau von Rênal erschrak zu Tode darüber. Die tugendhafte Kälte, die sie sich für die Wiederbegegnung vorgenommen hatte, wich dem Ausdruck der Teilnahme, eines Mitgefühls, das die Verwunderung über den sichtlichen Umschwung in Julian noch vertiefte. Die leeren Redensarten, die man sich am Morgen über das Befinden und das schöne Wetter zu sagen pflegt, kamen beiden nicht über die Lippen. Julian aber, dessen Hirn keineswegs durch Leidenschaft verwirrt war, fand sofort ein Mittel, Frau von Rênal zu zeigen, daß er an Freundschaft zwischen ihnen nicht recht glaube. Von der kleinen Reise, die er vorhatte, sagte er kein Wort. Er grüßte und ging.
Während sie ihm noch nachsah, niedergedrückt durch den düsteren Hochmut, der ihr aus seinem am Abend zuvor so liebenswerten Gesichte entgegengelodert war, kam ihr ältestes Söhnchen hinten aus dem Garten gelaufen, umschlang sie und berichtete ihr:
»Mutter, wir haben Ferien! Herr Julian verreist.«
Frau von Rênal stand das Herz still. Sie war tief unglücklich ob ihrer Tugendhaftigkeit und mehr noch ob ihrer Schwäche. Dies neue Ereignis nahm all ihr Denken in Beschlag. Die bedachtsamen Vorsätze, die sie in der vergangenen schrecklichen Nacht gefaßt, verflogen in alle vier Winde. Jetzt galt es nicht mehr, einem inniggeliebten Verliebten zu widerstehen. Sie sah sich in Gefahr, ihn auf ewig zu verlieren.
Sie mußte am Frühstück teilnehmen. Um ihr Herzeleid zu vollenden, redeten Herr von Rênal und Frau Derville fortgesetzt von Julians Abwesenheit. Er argwöhnte hinter der kategorischen Art, in der ihn Julian um Urlaub gebeten hatte, einen besonderen Anlaß:
»Ohne Zweifel hat dieser Bauernjunge das Angebot von irgend jemandem in der Tasche. Aber diesem Irgendjemand, und wäre es auch Valenod, wird wohl der Appetit vergehen, wenn er hört, daß er sich damit seine jährlichen Ausgaben um zweihundert Taler erhöht. Der Bursche wird sich gestern in Verrières eine Bedenkzeit von drei Tagen ausbedungen haben, und heute ist das Kerlchen in die Berge gelaufen, damit er mir nicht Rede und Antwort zu stehen braucht. Das ist auch ein Zeichen der Zeit, daß man sich die Unverschämtheiten eines ärmlichen Tagelöhners gefallen lassen muß!«
Frau von Rênal dachte bei sich: »Wenn schon mein Mann, der gar nicht weiß, wie tief er Julian verletzt hat, der Meinung ist, daß er uns verlassen wird: was soll ich dann erst glauben? Ach, es ist alles entschieden!«
Um wenigstens ungestört weinen zu können und Frau Dervilles Fragen zu entgehen, gab sie vor, heftige Kopfschmerzen zu haben, und legte sich zu Bett.
»So sind die Weiber!« polterte Herr von Rênal gewohntermaßen. »Ewig ist an diesen komplizierten Maschinen etwas nicht im Schwunge.« Spöttisch ging er von dannen.
Während Frau von Rênal alle Qualen der schrecklichen Leidenschaft erduldete, zu deren Opfer der