Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. СтендальЧитать онлайн книгу.
abends zehn Uhr setzte ein Gendarm, der die Hauptstraße hinaufgaloppierte, die ganze Stadt in Aufruhr. Er brachte die Kunde, daß Seine Majestät der König am nächsten Sonntag nach Verrières käme. Es war bereits Dienstag. Der Regierungspräsident gestattete – das hieß soviel wie: er befahl – die Aufstellung einer Ehrenwache. Der Empfang sollte so feierlich wie nur möglich werden.
Alsbald ward ein reitender Bote nach Vergy geschickt. Herr von Rênal traf noch während der Nacht in der Stadt ein. Die ganze Bürgerschaft war auf den Beinen. Jedermann hatte sein besonderes Anliegen. Wer nicht unmittelbar beteiligt war, mietete sich einen Balkon, um den Einzug des Königs zu sehen.
»Wer wird die Ehrenwache führen?« fragte man sich. Der Bürgermeister war sich sofort klar, daß es im Interesse der zu enteignenden Grundstücke war, wenn Herr von Moirod diesen Ehrendienst erhielt. Damit erleichterte man ihm die Anwartschaft auf den Posten des Vizebürgermeisters. An Moirods kirchlicher Gesinnung war nicht das geringste auszusetzen; die war über allen Zweifel erhaben. Aber er hatte noch nie auf einem Gaul gesessen. Er war ein Mann von sechsunddreißig Jahren und in jeglicher Beziehung ein Hasenfuß. Vor dem Herunterfallen fürchtete er sich genauso wie vor jeder sonstigen Lächerlichkeit.
Frühmorgens um fünf Uhr ließ ihn Herrn von Rênal zu sich bitten.
»Sie sehen, Herr von Moirod, ich hole Ihren Rat bereits ein, als hätten Sie schon den Posten, den Ihnen jeder Gutgesinnte wünscht. In unsrer Unglücksstadt kommt die Industrie bedenklich hoch. Die Liberalen werden Millionäre; sie trachten nach der Macht und wissen aus jedem Umstand gegen uns Waffen zu schmieden. Behalten wir das Wohl Seiner Majestät, der Monarchie und vor allem unsrer heiligen Kirche unentwegt im Auge… Sagen Sie mal, Verehrtester, wen könnte man am besten mit dem Kommando der Ehrenwache betrauen?«
Trotz seiner Heidenangst vor jedem Pferd nahm Moirod schließlich den Ehrenposten wie eine Märtyrerkrone an.
»Ich werde die Sache schon machen«, versicherte er dem Bürgermeister.
Man hatte gerade noch Zeit, die Uniformen instand zu setzen, die vor sieben Jahren gelegentlich des Durchzugs eines königlichen Prinzen angeschafft worden waren.
Um sieben Uhr früh kam Frau von Rênal mit den Kindern und dem Hauslehrer aus Vergy an. Sie fand ihren Salon voll von Damen der Liberalen, die von der Versöhnung der Parteien salbaderten und sie dringlichst baten, bei ihrem Gatten ein gutes Wort einzulegen, daß ihre Männer und Söhne zur Ehrenwache befohlen würden. Eine von ihnen behauptete: wenn ihr Mann nicht dazu käme, würde er aus Gram und Kummer Bankrott machen.
Frau von Rênal jagte die ganze Sippschaft zum Tempel hinaus. Sie hatte sichtlich besondre Gedanken. Julian war erstaunt, ja geradezu verstimmt, daß sie ihm nicht anvertraute, was sie so versonnen machte. Voll Bitternis sagte er sich: »Ich habe es immer gewußt. Vor dem Glück, den König in ihrem Hause zu empfangen, ist all ihre Liebe verflogen! Der Jahrmarktslärm benimmt ihr den Kopf. Sie wird mich erst dann wieder lieben, wenn die Ideen ihrer Kaste ihr Hirn nicht mehr verwirren.«
Und doch liebte er sie mehr denn je. »Welch Mirakel!« gestand er sich.
Die Tapezierer begannen sich im ganzen Hause breitzumachen. Lange lauerte Julian vergebens nach einer Gelegenheit, ihr ein paar Worte zu sagen. Endlich traf er sie, als sie gerade aus seinem Zimmer kam, einen seiner Röcke überm Arm. Sie waren allein. Er wollte sie anreden, aber sie entzog sich ihm, ohne ihn anzuhören. »Ich bin ein rechter Narr«, grollte er, »eine solche Frau zu lieben! Der Ehrgeiz macht sie genauso verrückt wie ihren Mann.«
In der Tat war sie es mehr denn er. Schon lange hegte sie den Herzenswunsch, ihren Julian, und sei es auch nur auf einen Tag, einmal nicht in seinem tristen schwarzen Rock zu sehen. Aus Angst, ihn zu kränken, wollte sie es ihm nur nicht gestehen. Mit wirklicher Verschmitztheit, wie man sie einer so natürlichen Frau gar nicht zutrauen sollte, verstand sie es, zuerst Herrn von Moirod und darauf den Landrat von Maugiron zu überreden, daß Julian mit in die Ehrenwache kam und somit fünf oder sechs reichen Fabrikantensöhnen vorgezogen wurde. Zwei von ihnen waren obendrein exemplarische Frömmler. Herr Valenod, der seine Kutsche ein paar schönen Damen zur Verfügung gestellt hatte, damit seine Normannen bewundert werden sollten, mußte eins dieser Prachttiere an Julian abtreten, den er doch ingrimmig haßte.
Nun fehlte nur noch die Uniform. Sämtliche andern Ehrengardisten hatten feine eigene oder geliehene kornblumenblaue Waffenröcke mit Stabsoffiziersepauletten, deren Silberfransen allerdings nicht mehr so glänzten wie vor sieben Jahren. Frau von Rênal wollte Julian in einer neuen Uniform sehen. Vier Tage waren wenig Zeit, um Waffenrock, Schulterklappen, Hut, Säbel und alles, was sonst zur Ausstaffierung eines Ehrengardisten gehört, aus Besançon kommen zu lassen. Sie hielt es für wunder wie klug, alle diese Dinge nicht in Verrières zu bestellen. Julian und die Stadt sollten überrascht werden.
Nachdem die Frage der Ehrenwache und der öffentlichen Stimmung erledigt war, mußte sich der Bürgermeister damit befassen, eine große kirchliche Feier in die Wege zu leiten. Karl X. wollte Verriéres nicht passieren, ohne der berühmten Reliquie des heiligen Clemens seinen Besuch abzustatten, die in Hohen-Bray aufbewahrt ward, einem kleinen Orte, eine halbe Stunde von der Stadt entfernt. Ein zahlreicher Klerus sollte zugegen sein. Dies war aber keine einfache Sache. Maslon, der neue Pfarrer, wollte nichts davon wissen, daß man den alten Pfarrer Chélan heranzog. Vergeblich stellte ihm der Bürgermeister vor, dies sei unumgänglich. Der Marquis von La Mole, dessen Vorfahren so lange Zeit in dieser Gegend der Freigrafschaft geherrscht hatten, sei als Begleiter des Monarchen befohlen. Er kenne den Abbé Chélan seit dreißig Jahren. Es sei vorauszusehen, daß er bei seiner Anwesenheit in Verrières nach ihm frage, und wenn er von seiner Absetzung erführe, wäre er just der Mann, ihn in dem Häuschen, in das er sich zurückgezogen hatte, aufzusuchen. Er und das ganze Gefolge, über das er verfügte. Das wäre eine Riesenblamage!
»Wenn Chélan unter meinem Klerus erscheint«, jammerte der Abbé Maslon, »dann ist es um mein Ansehen hier und in Besançon geschehen! Ein Jansenist! Großer Gott!«
»Das ist alles schön und gut«, erwiderte ihm Herr von Rênal, »aber ich habe keine Lust, die Behörde der Stadt Verrières der Gefahr auszusetzen, eine scharfe Bemerkung des Herrn Marquis einstecken zu müssen. Sie kennen ihn nicht. Bei Hofe vermickst er sich nicht, aber hier in der Provinz ist er Witzbold, Spötter. Er bringt die Leute gern in Verlegenheit. Er ist imstande, uns vor den Liberalen lächerlich zu machen, bloß um seinen Spaß daran zu haben.«
Erst in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag, nach drei Tagen des Hin-und Herredens, beugte sich der hochmütige Geistliche vor der zu Mut gewandelten Angst des Stadtoberhauptes. Der Pfarrer Chélan bekam einen honigsüßen Brief, in dem er gebeten ward, dem feierlichen Akt vor der Reliquie von Hohen-Bray beizuwohnen, wenn dies ihm bei seinem hohen Alter und seiner schwachen Gesundheit möglich wäre. Chélan sprach daraufhin den Wunsch aus, Julian als Subdiakon in seiner Begleitung zu haben. So erhielt auch Julian eine Aufforderung, der Zeremonie beizuwohnen.
Am Sonntag vormittag fluteten Tausende von Landleuten, die aus den nahen Bergen kamen, durch die Straßen von Verrières. Es war herrlicher Sonnenschein. Gegen drei Uhr erreichte die Spannung ihren Höhepunkt. Auf einer Höhe, eine Wegstunde vor der Stadt, loderte ein gewaltiges Feuer auf. Das war das Zeichen, daß Seine Majestät die Grenze des Regierungsbezirks überschritten hatte. Alsbald begannen überall die Glocken zu läuten, und die alte spanische Kartaune, die der Stadt gehörte, gab zur Feier des großen Ereignisses Salutschüsse ab. Die Hälfte der Einwohnerschaft war auf die Dächer gestiegen. Alle Balkons waren voller Damen.
Die Ehrenwache setzte sich in Bewegung, um den König einzuholen. Alles bewunderte die schmucken Uniformen. Man erkannte in dem und jenem Reiter Verwandte und Bekannte. Die Ängstlichkeit Moirods, der alle Augenblicke mit der Hand nach dem Sattelknopf fuhr, erregte Heiterkeit. Etwas aber übte die allergrößte Wirkung auf die schaulustige Menge aus. Man erblickte im Flügelmanne der neunten Rotte der Ehrengarde, einem bildhübschen überschlanken Burschen, der auf einem der stadtbekannten Valenodschen Pferde saß: den kleinen Sorel, den Müllersjungen! Erst hatte man ihn übersehen. Jetzt erkannte man ihn unter Ausrufen der Entrüstung oder unter dem Schweigen der Verblüffung. Das war allgemein eine Sensation. Man schimpfte auf den Bürgermeister, zumal bei den Liberalen. Es sei unglaublich! Weil dieser Handwerkerjunge im Pfaffenrock der Schulmeister seiner Schlingel