Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. СтендальЧитать онлайн книгу.
wird er es noch bringen! Aber dann, ach, dann wird er mich vergessen!«
Ihre heimliche Bewunderung des Mannes, den sie über alles schätzte, nahm ihr den letzten Rest von Aufregung. Sie frohlockte über ihren Mut. »Ich bin seiner nicht unwürdig!« lobte sie sich in stiller inniger Wonne.
Aus Furcht, sich zu binden, sagte Herr von Rênal kein Wort, sondern machte sich zunächst an das Studium des zweiten anonymen Briefes, des zusammengeklebten. Darnach meinte er müden Tones: »Man macht sich in jeder Weise über mich lustig.« Bei sich setzte er hinzu: »Abermals Beschuldigungen, die zu untersuchen wären! Immer wieder wegen meiner Frau!«
Es fehlte nicht viel, so hätte er sie auf das gröblichste beschimpft. Nur die Aussicht auf die Erbschaft in Besançon hinderte ihn mühselig daran. Er mußte seinen Zorn an irgend etwas auslassen, und so zerknüllte er diese zweite Denunziation, wobei er mit großen Schritten auf und ab lief. Er hatte das Bedürfnis, allein zu sein. Ein Weilchen darauf, ruhiger geworden, kam er wieder zu seiner Frau.
Sie ergriff sofort das Wort: »Es bedarf eines Entschlusses. Julian muß fort! Besondre Rücksicht ist bei so einem Bauernjungen nicht nötig. Du zahlst ihm ein paar Taler Abfindung. Er ist ein gescheiter Mensch und wird leicht woanders unterkommen. Zum Beispiel bei Valenod oder beim Landrat von Maugiron, die beide Kinder haben. Somit schädigst du ihn gar nicht…«
»Da kommt so recht deine Beschränktheit zutage!« unterbrach Herr von Rênal sie heftig und grob. »Weiber haben wirklich kein bißchen gesunden Menschenverstand! Nie kriegt ihr das Wesentliche einer Sache heraus! Zu nichts seid ihr nütze! Gleichgültig seid ihr, träge, höchstens zur Schmetterlingsjagd zu gebrauchen! Klägliche Geschöpfe! Es ist ein Elend, euch im Hause zu haben …«
Frau von Rênal ließ ihn reden, und er redete lange. Er redete sich sozusagen den Ärger vom Leibe.
»Verehrtester«, erwiderte sie schließlich, »ich spreche als Frau, die im Heiligsten verletzt ist, was sie besitzt, in ihrer Ehre!«
Während dieses ganzen ihr peinlichen Auftrittes blieb sie unerschütterlich kaltblütig. Hing doch davon die Möglichkeit ab, weiterhin unter einem Dache mit Julian zu leben. Unempfänglich gegen alle die kränkenden Worte, die ihr entgegengeschleudert wurden, suchte sie nach Motiven, die imstande waren, ihren vor Jähzorn blinden Gatten zu düpieren. Was er ihr sagte, hörte sie gar nicht. Sie dachte nur an den Geliebten: »Wird er mit mir zufrieden sein?«
»Vielleicht kann er nichts dafür«, sagte sie, »der kleine Bauer, dem wir so sehr viel Gutes angetan haben. Aber auf jeden Fall ist er der Anlaß, daß man mich zum erstenmal in meinem Leben beleidigt hat … Als ich den niederträchtigen Zettel da las, habe ich mir geschworen, daß eins von uns beiden das Haus verlassen wird: er oder ich!«
»Willst du einen Skandal in die Welt setzen? Mich und dich blamieren? Das wäre für so manchen in Verrières ein gefundenes Fressen!«
»Ich gebe zu: die Leute beneiden dich allgemein, weil du es mit Umsicht und Klugheit verstanden hast, deine, deiner Familie und der Stadt Interessen zu fördern. Also gut! Dann werde ich unsern Hauslehrer veranlassen, sich von dir vier Wochen Urlaub zu erbitten. Er kann sich ja zu seinem guten Freunde, dem Holzhändler, begeben.«
Herr von Rênal war inzwischen besonnener geworden.
»Ich bitte mir aus«, entgegnete er ihr, »daß du dies mir überläßt! Vor allem verlange ich, daß du nicht mit ihm sprichst. Deine Aufgeregtheit macht die Sache nur noch schlimmer und bringt mich bloß mit ihm in Differenzen. Du weißt, wie vorsichtig man das Herrchen behandeln muß.«
»Der Bursche hat keine Manieren«, gab sie zu. »So gescheit er auch sein mag. Das weißt du am besten. Alles in allem ist er ein richtiger Bauer. Seit er Elisens Heiratsantrag ausgeschlagen hat, ist es mit meiner guten Meinung über ihn vorbei. Damit hätte er sich seine Zukunft gesichert. Und bloß, weil sie ein heimliches Techtelmechtel mit Valenod haben soll…«
»Wie? Was?« unterbrach Herr von Rênal, indem er die Augen gewaltig aufriß. »Hat dir das Julian gesagt?«
»Das nicht gerade. Er hat mir immer nur erklärt, er fühle heilige Pflichten in sich. Hirngespinst! Die heiligste Pflicht eines armen Schluckers ist, sich das tägliche Brot zu sichern! Habe ich da nicht recht? Allerdings hat er mir einmal angedeutet, daß er von den heimlichen Beziehungen Elisens wisse.«
»So! So!« rief Rênal, von neuem in heller Wut, und jedes Wort betonend, fuhr er fort: »In – meinem – Hause – gehen – also – Dinge – vor, – von – denen – ich – nichts – erfahre! Ist das Tatsache, daß Valenod und Elise etwas miteinander haben?«
»Aber das ist doch eine alte Geschichte, Verehrtester!« rief Frau von Rênal lachend. »Vielleicht war weiter nichts Schlimmes dabei. Das war damals, wo dein guter Freund Valenod gar nicht böse gewesen wäre, wenn man in Verrières geglaubt hätte, daß sich zwischen ihm und mir ein kleiner Flirt entsponnen hätte.«
»Hm! Das ist mir ja nicht ganz entgangen …«, meinte Herr von Rênal und schlug sich wütend auf die Stirn. Er fiel von einer Überraschung in die andre. »Und das hast du mir auch nicht gesagt!«
»Sollte ich wegen einer kleinen galanten Anwandelung deines geliebten Armenamtsvorstandes Zwietracht zwischen zwei alte Freunde säen? Sag mir mal, an welche Dame der Gesellschaft hätte dieser eitle Geck noch keine geistreich-gefühlvolle Episteln gerichtet?«
»Er hat dir Briefe geschickt?«
»Einen ganzen Stoß!«
»Zeig mir diese Briefe! Augenblicklich! Ich befehle es dir!«
Herr von Rênal redete sich in seiner ganzen Länge auf.
»Ich werde mich hüten«, antwortete sie mit kühler Artigkeit. »Wenn du wieder vernünftig bist, werde ich sie dir gelegentlich geben.«
»Nein, auf der Stelle, Schockschwerenot!« schrie er in wilder Wut, aber doch in glücklicherer Verfassung denn je in den letzten vierundzwanzig Stunden.
»Schwöre mir«, sagte Frau von Rênal feierlich, »daß du mit dem Armenamtsvorstand niemals seiner Briefe wegen Streit beginnen wirst!«
»Streit oder nicht Streit! Ich kann ihm sein Amt entziehen. Und unbedingt muß ich die Briefe auf der Stelle haben! Wo sind sie?«
»In einem Schubfach meines Schreibtisches. Aber den Schlüssel gebe ich auf keinen Fall her.«
»Ich werde ihn schon aufkriegen!« rief er und rannte in das Zimmer seiner Frau.
In der Tat erbrach er mit einem Stemmeisen den kostbaren, schön gemaserten Mahagonischreibtisch. Er war in Paris gekauft, und oft hatte Herr von Rênal ihn mit dem Rockzipfel abgewischt, wenn er nur einen Hauch auf der Politur zu bemerken glaubte.
Frau von Rênal flog die einhundertundzwanzig Stufen im Turm hinauf zum Taubenschlag und knüpfte ihr weißes Taschentuch ans Guckfenstergitter. Sie war überglücklich. Tränen in den Augen, spähte sie nach dem Bergwald. »Gewiß«, dachte sie, »harrt Julian dort unter einer der buschigen alten Buchen meines glücklichen Zeichens.« Lange lauschte sie. Sie verwünschte das eintönige Gezirp der Grillen und das Gurren der Tauben. Ohne dieses störende Geräusch hätte sie gewiß einen Jodler vom Felsenvorsprung her vernommen. Ihr sehnsüchtiges Auge überflog die Höhen, an denen das Wipfelmeer wie eine endlose Wiese hing. »Er könnte doch so gescheit sein und mir durch irgendein Zeichen kundtun, daß sein Glück dem meinen gleicht«, dachte sie tieftraurig. Sie blieb auf dem Turm, bis sie Angst bekam, ihr Mann könne sie oben suchen.
Sie fand ihn in grimmiger Stimmung. Er war dabei, die Tiraden Valenods zu überfliegen, die wenig geeignet waren, in aufgeregter .Verfassung gelesen zu werden.
Frau von Rênal paßte einen Augenblick ab, wo ihr Mann in seinem lauten Schimpfen innehielt, um zu Worte zu kommen: »Ich kann mich nicht beruhigen. Julian muß aus dem Hause! Mag er ein noch so guter Lateiner sein, ein grober Bauer ist und bleibt er doch. Zuweilen läßt er es am Takt fehlen. Er bildet sich ein, wunder wie artig zu sein, wenn er einem überschwengliche geschmacklose Komplimente macht. Und das tut er häufig. Wahrscheinlich hat er sie aus irgendwelchen Romanen…«
»Unsinn! Er liest ja gar keine«,