Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. СтендальЧитать онлайн книгу.
überaus hagere Marquis gestikulierte viel. Des weiteren stellte Julian bei sich fest, daß er von einer Urbanität war, die auf den, der mit ihm zu tun hatte, noch verführerischer wirkte als selbst die, die er am Bischof von Besançon so bewundert hatte.
Die Audienz währte keine drei Minuten. Als sie das Zimmer verlassen hatten, sagte der Abbé zu Julian: »Sie haben den Marquis angeschaut, als sollten Sie sein Porträt malen. Ich bin ein Stümper in der sogenannten Kunst des Umganges. Darin werden Sie mir sehr bald über sein. Aber Ihr dreistes Anstarren ist mir doch ein wenig zu unhöflich vorgekommen.«
Sie stiegen wieder in ihre Droschke. Am Boulevard hielt der Kutscher. Der Abbé führte Julian durch eine Flucht von hohen Sälen. Julian fiel es auf, daß keine Möbel darin standen. Er war in die Betrachtung einer prachtvollen vergoldeten Stutzuhr versunken, die etwas seiner Meinung nach recht Anstößiges darstellte, als ein höchst elegant gekleideter Herr mit lächelnder Miene auf ihn zutrat. Julian grüßte leichthin. Der Herr lächelte weiter und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Julian zuckte zusammen und fuhr einen Schritt zurück. Er war vor Zorn rot geworden. Der Abbé vergaß seinen würdesamen Ernst und lachte, daß ihm die Tränen kamen. Der Herr war der Schneider.
Beim Wiedergehen sagte der Abbé zu Julian: »In den nächsten zwei Tagen sind Sie Ihr eigener Herr. Der Frau Marquise werden Sie erst vorgestellt, wenn alles fertig ist. Ich denke nicht daran, Sie bei Ihrem Debüt im Seine-Babel wie ein junges Mädchen zu überwachen. Verlieren Sie Ihre Unschuld nur gleich, wenn Sie sie noch zu verlieren haben! Dann brauche ich keine Angst mehr um Sie zu haben. Übermorgen früh wird Ihnen der Schneider zwei Anzüge schicken. Dem Zuschneider, der sie Ihnen anprobiert, geben Sie fünf Franken Trinkgeld! Übrigens: reden Sie mit diesen Pariser Spottvögeln nicht in Ihrem Provinzfranzösisch. Ein Wort – und Sie sind verraten und verkauft. Darin haben die Leute etwas los. Übermorgen mittag kommen Sie zu mir. So, jetzt gehen Sie … und sündigen Sie … Noch eins: besorgen Sie sich Schuhe, Hemden und einen neuen Hut. Hier sind die nötigen Adressen!«
Julian betrachtete die Handschrift des Zettels.
»Eigenhändig geschrieben!« sagte der Abbé. »Der Marquis ist ein tätiger und weitblickender Herr, der lieber selber handelt, statt daß er bloß befiehlt. Er nimmt Sie in seinen Dienst, um sich die kleinen Mühen zu ersparen. Werden Sie Auffassungsgabe genug haben, alles, was dieser lebhafte Mensch kurz andeutet, richtig auszuführen? Die Zukunft wird diese Frage beantworten. Passen Sie gut auf!«
Ohne viel zu reden, suchte Julian die ihm aufgeschriebenen Geschäfte auf. Dabei machte er die Wahrnehmung, daß man ihn überall respektvoll empfing. Der Schuhmacher trug seinen Namen als Herr Julian von Sorel in sein Buch ein.
Unter anderm suchte Julian den Friedhof Père-Lachaise auf. Ein ungemein höflicher und in seinen Reden riesig liberaler Herr hatte die Gefälligkeit, ihn an das Grab des Marschalls Ney zu führen, des Treuesten der Treuen unter Napoleons Generalen. Die hochwohlweise Regierung jener Zeit versagte ihm die Ehre einer Grabschrift. Als sich Julian von dem freundlichen liberalen Herrn getrennt hatte, der ihm, Tranen in den Augen, fast um den Hals gefallen war, hatte er keine Taschenuhr mehr.
Um eine Erfahrung reicher stellte er sich am übernächsten Tage Punkt zwölf Uhr beim Abbé Pirard ein, der ihn einer genauen Besichtigung unterzog.
»Sie haben Anlage, ein Dandy zu werden«, meinte er in strengem Tone.
Julian sah wirklich ganz leidlich aus, wie ein junger Herr in Trauer. Nur war der brave Abbé selber zu sehr Provinzler, als daß er bemerkt hätte, daß sein Schützling die Schultern noch immer in der Art trug, die in der Provinz Eleganz und Würde bedeuten soll. Der Marquis, der ihn gleich darauf musterte, urteilte etwas anders.
»Haben Sie etwas dagegen, Herr Pfarrer, wenn Herr Sorel Tanzstunden nimmt?«
Der Abbé war starr.
»Nein, Euer Exzellenz«, erwiderte er schließlich. »Julian ist nicht Priester.«
Der Marquis betrat eine Geheimtreppe und führte seinen neuen Sekretär, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf in eine freundliche Dachstube, deren Aussicht auf den großen Park des Hauses ging.
Oben fragte er, wieviel Hemden Julian im Wäschegeschäft bestellt habe.
»Zwei Stück, Euer Exzellenz«, gab er zur Antwort, etwas befangen darüber, daß sich ein so hoher Herr um derartige Kleinigkeiten zu kümmern geruhte.
»Schön!« sagte der Marquis mit ernster Miene und in kurzem Befehlstone, der Julian nachdenklich stimmte. »Bestellen Sie noch zweiundzwanzig dazu! Hier haben Sie das Gehalt des ersten Vierteljahres.«
Nachdem sie zusammen wieder hinuntergestiegen waren, rief der Marquis einen älteren Diener. »Arsen«, befahl er ihm, »Sie übernehmen die Bedienung des Herrn Sorel!«
Ein paar Minuten später befand sich Julian allein in der herrlichen Bibliothek. Eine köstliche Augenweide! Um in seiner Erregung nicht etwa überrascht zu werden, setzte er sich in die dunkelste Ecke. Von hier aus betrachtete er voller Entzücken die glänzenden Bücherrücken. »Das darf ich alles lesen!« frohlockte er. »Hier muß es mir ja gefallen! Herr von Rênal hätte sich auf immerdar für entehrt gehalten, wenn er für mich nur den hundertsten Teil dessen getan hätte, was der Marquis tut … Ah, da liegen die Briefschaften, die ich zu erledigen habe!«
Als Julian mit seiner Arbeit fertig war, wagte er sich an die Bücher. Er ward fast närrisch vor Freude, als er eine Voltaire-Ausgabe entdeckte. Schnell lief er nach der Tür des Bibliothekzimmers und blickte hinaus, ob ihn auch niemand stören werde. Dann machte er sich das Vergnügen, jeden einzelnen der achtzig Bände aufzuschlagen. Die kostbaren Einbände waren die Meisterleistung eines der geschicktesten Londoner Buchbinder. Julians Bewunderung war grenzenlos.
Eine Stunde darauf trat der Marquis ein. Er sah die Reinschriften durch und nahm zu seiner Verblüffung wahr, daß Julian dieses mit »ss« geschrieben hatte. »Sollte mir der Abbé ein Märchen aufgebunden haben, als er mir die Kenntnisse des jungen Mannes rühmte?« dachte er.
Arg enttäuscht fragte er Julian in mildem Tone: »In der Rechtschreibung sind Sie wohl nicht firm?«
»Leider nein, Eure Exzellenz«, gab Julian zu, ohne im geringsten zu bedenken, wie sehr er sich damit schadete. Er war allzu gerührt von der Güte des Marquis, bei der ihm die hochfahrende Art und Weise des Herrn von Rênal deutlich in die Erinnerung trat.
»Dann hat es eigentlich keinen Zweck, es mit diesem kleinen Abbé aus der Freigrafschaft zu versuchen«, dachte der Marquis. »Ich brauche einen in jeder Beziehung zuverlässigen Menschen.« Laut sagte er: »Dieses wird mit einem s geschrieben. Wenn Sie eine Reinschrift anfertigen, müssen Sie die Wörter, über deren Schreibweise Sie sich unklar sind, im Wörterbuche nachschlagen.«
Um sechs Uhr ließ der Marquis Julian rufen. Sein erster – betroffener – Blick fiel auf dessen Schuhe.
»Ich muß mich einer Vergeßlichkeit zeihen«, bemerkte er. »Ich habe Ihnen noch nicht gesagt, daß Sie sich alle Tage einhalb sechs Uhr umkleiden müssen.«
Julian sah ihn verständnislos an.
»Ich meine: Kniehosen und Strümpfe anziehen. Arsen wird Sie immer daran erinnern. Für heute sind Sie entschuldigt.«
Mit diesen Worten ließ der Marquis seinen Sekretär in einen goldschimmernden Saal eintreten. Herr von Rênal hätte bei dieser Gelegenheit nicht versäumt, seinen Gang zu beschleunigen, um den Vortritt zu haben. In Erinnerung der kleinlichen Eitelkeit seines ehemaligen Herrn trat Julian dem Marquis auf die Füße und verursachte dem an Gicht Leidenden großen Schmerz.
»Ein Tölpel ist er also auch!« stöhnte der Marquis.
Er stellte ihn einer stattlichen Dame von imposanter Erscheinung vor. Es war die Marquise. Sie machte Julian einen sehr eingebildeten Eindruck. Sie erinnerte ihn an Frau von Maugiron, die Gattin des Landrates von Bray, wenn sie irgendeiner offiziellen Festlichkeit beiwohnte.
Julian geriet durch die ungemeine Pracht des Saales ein wenig in Verwirrung. Er hörte nicht, was Herr von La Mole sagte. Die Marquise würdigte ihn kaum eines Blickes. Es waren noch einige Herren anwesend, unter denen Julian zu seiner unaussprechlichen