Tante Lisbeth. Оноре де БальзакЧитать онлайн книгу.
etwas anderes damit zu bezwecken, als sich den Verwandten ihrer Nachbarin anzusehen, wechselte diese Dame einen Blick mit dem Baron; aber den alten Lebemann durchzuckte es dabei lebhaft wie alle Pariser, wenn sie einer jungen Frau begegnen, die, wie der Fachmann sich ausdrückt, ihren Geschmack verkörpert. Ehe er wieder in den Wagen stieg, zog er langsam und bedächtig einen seiner Handschuhe an, um sein Zögern zu begründen und der jungen Frau mit den Blicken folgen zu können. Ihr Kleid verriet gefällige Formen und nicht nur die abscheulichen betrügerischen Krinolinenunterröcke.
Das ist ja eine reizende kleine Frau! sagte er sich. Mit der wäre man glücklich.
Als nun die Unbekannte im Hausflur die Wendung zur Treppe machte, spähte sie nochmals nach dem Baron, wobei sie sich ja nicht umzudrehen brauchte. Da sah sie, dass der Baron, starr vor Bewunderung und von Begehrlichkeit und Neugier gepackt, noch am selben Platze stand. Bewunderung ist eine Blume, deren Duft alle Pariserinnen mit Wonne einatmen, wenn sie sie an ihrem Wege finden. Sogar pflichttreue und tugendsame hübsche Frauen kommen ziemlich verdrießlich heim, wenn sie auf ihrem Spaziergange nicht ihr kleines Sträußchen Bewunderung gepflückt haben.
Schnell stieg die junge Frau die Treppe hinauf. Bald darauf wurde im zweiten Stock ein Fenster geöffnet, an dem sie erschien, aber in Gesellschaft eines Herrn, dessen kahler Schädel und ein klein wenig grimmiger Blick den Ehemann verrieten.
Wie schlau und klug! dachte der Baron. Auf diese Weise zeigt sie mir, wo sie wohnt. Nur ein bisschen zuviel Tempo! Und dann dies Viertel hier! Also Vorsicht!
Der Rat hob den Kopf, als er in die Droschke gestiegen war, und im Nu zogen sich Mann und Frau zurück, als habe das Gesicht des Barons die sagenhafte Wirkung des Medusenhauptes auf sie ausgeübt.
Fast möchte man glauben, sie kennen mich, dachte der Baron. Dann wäre ja alles klar.
Und wirklich, als der Wagen wieder der Rue du Musée zufuhr und Hulot sich noch einmal nach der Unbekannten umwandte, sah er, dass sie wieder am Fenster stand. Sich schämend, dabei ertappt worden zu sein, dass sie ihrem Anbeter nachschaute, fuhr die junge Frau rasch zurück.
Durch die Wildkatze werde ich erfahren, wer sie ist, dachte der Baron.
Der Anblick des Staatsrates hatte einen tiefen Eindruck auf das Ehepaar gemacht.
»Aber das ist ja der Baron Hulot, der Vorstand meiner Abteilung!« rief der Mann und trat von der Fensterbrüstung zurück.
»Und denke dir, Paul, die alte Jungfer, die im dritten Stock nach dem Hof hinaus wohnt und mit dem jungen Menschen zusammenlebt, die muss eine nahe Verwandte von ihm sein! Wie sonderbar, dass wir das erst heute und so zufällig erfahren!«
»Fräulein Fischer lebt mit einem jungen Menschen zusammen?« rief der Beamte. »Ach was, das ist Altweiberklatsch! Wir wollen nicht so leichthin von der Verwandten eines Staatsrates sprechen, von dem im Ministerium Regen und Sonnenschein abhängt. Komm! Essen wir! Ich warte seit vier Stunden auf dich!«
Die sehr hübsche Frau Marneffe, eine uneheliche Tochter des Grafen Montcornet, eines der gefeiertsten napoleonischen Offiziere, hatte man mit einer Mitgift von zwanzigtausend Francs an einen unteren Beamten im Kriegsministerium verheiratet. Durch den Einfluss des berühmten Generals, der während der letzten sechs Monate seines Lebens Marschall von Frankreich gewesen, war diese Schreiberseele ganz unverhofft in die Stelle eines Kanzleiassistenten aufgerückt. Aber gerade als er Kanzleisekretär werden sollte, hatte der Tod des Marschalls den Hoffnungen des Ehepaares ein Ende bereitet. Die Kärglichkeit ihres Einkommens zwang das Ehepaar Marneffe, an der Miete zu sparen; denn die Mitgift von Fräulein Valerie Fortin war draufgegangen, teils um Marneffes Schulden zu bezahlen, teils durch die nötigen Anschaffungen bei der Errichtung ihres Heims, besonders aber durch die Bedürfnisse der hübschen Frau, die bei ihrer Mutter an Genüsse gewöhnt worden war, auf die sie nicht mehr verzichten wollte. Die Lage der Rue du Doyenné, nahe dem Kriegsministerium und der City von Paris, gefiel Herrn und Frau Marneffe, die nun seit ungefähr vier Jahren mit Fräulein Fischer in einem Hause wohnten.
Jean Paul Marneffe gehörte zu der Kategorie von Beamten, die dem völligen moralischen Untergang nur durch jene gewisse Widerstandskraft entgehen, die die Entartung zeitigt. Dieser kleine hagere Mann mit dünnem Haupt- und Barthaar und blassem Gesicht, mit mehr Spuren des Verbrauchtseins als des Alters, mit bebrillten Augen und leicht geröteten Lidern, dieser Mann von unsicherem Benehmen und noch unsicherer Haltung hatte den Typ eines Sittlichkeitsverbrechers.
Die Räume, die das Ehepaar bewohnte, boten den üblichen Anblick so vieler Pariser Wohnungen, in denen unechter Luxus vorherrscht. Im Salon standen Möbel mit abgenutzten Bezügen aus Baumwollsamt; Gipsfiguren sollten Florentiner Bronzen vorstellen; der schlecht entworfene bronzierte Kronleuchter trug Lichthalter aus gepresstem Glas, und der billige Preis des Teppichs fand nachträglich eine Erklärung in der Menge eingewebter Baumwolle, die man bereits mit bloßem Auge erkennen konnte. Alles bis auf die Vorhänge, an denen man so recht sehen konnte, dass Wolldamast keine drei Jahre lang gut aussieht, alles das rief laut das Mitleid des Betrachters an wie ein zerlumpter Bettler vor der Kirchentür. Das Esszimmer, von einem einzigen Dienstmädchen nur schlecht instand gehalten, machte denselben widrigen Eindruck wie die Speisesäle in kleinstädtischen Gasthöfen: alles schmutzig und vernachlässigt.
Das Herrenzimmer – von einer Studentenbude nicht allzu verschieden – mit dem Junggesellenbett und sonstigem Junggesellenmobiliar sah verwohnt aus und so verbraucht wie sein Herr. Nur einmal wöchentlich ward es gesäubert. Und dies gräuliche Zimmer, wo alles umherlag, wo alte Socken über den Polsterstühlen hingen, auf deren dunklen Bezügen sich staubumränderte Blumen abzeichneten, ließ darauf schließen, dass diesem Manne sein Haushalt gleichgültig war, dass er sein Leben draußen verbrachte, beim Spiel, im Kaffeehaus und Gott weiß wo noch.
Nur das Zimmer der Dame des Hauses bildete eine Ausnahme in der allgemeinen Unordnung dieser Beamtenwohnung, in der alle Vorhänge von Rauch und Staub grau geworden waren und in der das Kind, augenscheinlich sich selbst überlassen, sein Spielzeug überall umherliegen ließ.
Das Haus, in der Hauptsache nach der Straße zu gelegen, hatte einen Seitenflügel, durch den es mit dem Hinterhaus zusammenhing. In diesem Flügel lagen das Schlafgemach und das Ankleidezimmer von Frau Valerie. Beide Räume, mit persischen Wandbehängen, Möbeln aus Palisanderholz und einem Brüsseler Teppich ausgeschmückt, verrieten die hübsche Frau und – die Frau, die einen reichen Liebhaber hat.
Auf dem samtbedeckten Kaminsims tickte eine jener Standuhren, die damals allgemein beliebt waren. Sonst standen noch eine Etagere mit allerhand Nippsachen herum und ein paar Blumenschalen aus wertvollem chinesischem Porzellan. Bett, Toilettentisch, Spiegelschrank, das kleine Ecksofa und alle die unvermeidlichen Kleinigkeiten verrieten den spielerischen Prunk der Zeit.
Das alles war zweifellos nur ein schwacher Abglanz von Reichtum und Eleganz und obendrein um drei Jahre in der Mode zurück. Dabei hatte dieser Luxus den Beigeschmack der Spießbürgerlichkeit. Jenes künstlerische Etwas fehlte völlig, das dort entsteht, wo guter Geschmack jeden einzelnen Gegenstand zum Besitzer passend aussucht. Ein Kenner des sozialen Lebens des Landes hätte aus gewissen nebensächlichen, aber wertvolleren Gegenständen sofort auf den Liebhaber, den bei einer verheirateten Frau stets abwesenden und doch immerdar anwesenden Halbgott, geschlossen.
Das Mittagessen, das Mann, Frau und Kind gemeinsam einnahmen, diese um vier Stunden verzögerte Mahlzeit, verriet die Geldnot, in der sich die Familie befand. Der Mittagstisch ist der sicherste Vermögensmesser in den Pariser Familien. Eine Kräutersuppe, Kalbfleisch mit Kartoffeln, das in einer rötlichen Brühe schwamm, die Bouillon vorstellen sollte, eine Schüssel Bohnen, Kirschen minderwertiger Sorte, alles auf arg beschädigten Tellern und Schüsseln, dazu leichte ärmliche Neusilberbestecke. Das war kein Tisch für eine hübsche junge Frau! Das zu sehen, hätte den Baron zu Tränen gerührt. Die trüben Karaffen verbargen nicht genug die abscheuliche Farbe des Weins, der literweise vom Weinhändler an der nächsten Ecke geholt wurde. Die Mundtücher waren seit acht Tagen im Gebrauch. Kurzum, alles verriet eine würdelose Armut und mangelnden Sinn für Gemütlichkeit bei Mann und Frau. Selbst der oberflächlichste Beobachter hätte erkannt, dass diese beiden Menschen an jenem verhängnisvollen Punkt angelangt waren, wo der Druck des Lebens Betrug und Selbstbetrug