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Auf dem Gipfel gibt's keinen Cappuccino. Heidi SandЧитать онлайн книгу.

Auf dem Gipfel gibt's keinen Cappuccino - Heidi Sand


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immer hätten Abschied nehmen müssen. Aus meiner Sicht war ich mehr als eine Mutter, zwischen meinen Kindern und mir herrschte – und das ist immer noch so – ein ganz enges Vertrauensverhältnis. Und ich hörte die Stimme in meinem Kopf, die sagte, das kann es doch nicht gewesen sein. Ich muss mir noch Zeit erkämpfen. Mit einem Ziel vor Augen änderten sich auch meine Gedanken. Ich nutzte die Chemotherapie, um mich mental auf dieses Ziel vorzubereiten. Statt über die Krankheit nachzudenken, fokussierte ich mich auf das, was danach kommen sollte. Ich las und las und las. Alles, was ich über den Everest erfahren konnte, sog ich auf. Und schöpfte daraus unendlich viel Kraft.

      Warum ausgerechnet der Everest, fragen Sie? Hätte es nicht auch eine Nummer kleiner sein können? Sicher, wenn es darum geht, ein Ziel zu wählen, das einen aus einer Krise befreit, hat jeder eine andere Idee. Manche gehen auf Weltreise oder laufen einen Marathon. Meine war eben der Everest. Das klingt vielleicht nicht mehr ganz so verrückt, wenn man weiß, dass ich aus einer Bergsteigerfamilie komme. Meine Eltern haben meine Geschwister und mich schon früh mit in die Berge genommen. Mein Vater verbrachte viel Zeit in den Bergen und kam in meiner Erinnerung immer glücklich und in sich ruhend zurück. Diese Beziehung zu den Bergen, dieses Gen, habe ich geerbt. Wenn ich auf einen Berg steige, gibt er mir Energie

      zurück.

      Obwohl die Krebsdiagnose im Sommer 2010 vermutlich der Auslöser war, so war doch ein Marathon in Barcelona 2003 der Moment, an dem die Reise im Grunde begann. Meine drei Kinder waren damals schon sehr selbstständig und brauchten mich nicht mehr 24 Stunden am Tag um sich herum, und somit konnte ich mich vermehrt auf andere Dinge konzentrieren. Ich konnte öfter in und auf die Berge, und durch das Training für den Marathon wurde ich so fit, dass ich diese Bergtrips noch mehr genießen konnte. Danach ging es Schlag auf Schlag. Ich stieg auf den Mont Blanc und fuhr in Kirgistan mit dem Ex­tremskifahrer Flory Kern und seiner Truppe Ski, und von jeder Tour kam ich mit drei bis fünf neuen Ideen zurück. Kurz vor meiner Diagnose war ich auf dem Mount Denali (früher: Mount McKinley) in Alaska, einem 6 190 Meter hohen Berg, der mich geradezu verzauberte. Hier steigt man ohne Träger auf und zieht sein gesamtes Material auf einem Schlitten hinterher. Es war ein besonderes Erlebnis. Schon wegen des wirklich einzigartigen Klos im Camp 3. Aber es war nicht der Moment, an dem ich beschloss, dass ich den nächsten Schritt wagen müsste. Der Everest stand nie wirklich zur Debatte. Nach der erfolgreichen Besteigung des Mount Denali flog ich nach Hause zurück und wurde von meinem jüngsten Sohn Henrik gleich wieder in den Alltag zurückgeholt, als er mich mit den Worten begrüßte: «Ich freu mich so sehr, dass du wieder da bist, ich habe dich echt vermisst.» – und im nächsten Atemzug: «Übrigens Mama, ich habe überhaupt keine frische Wäsche mehr im Schrank.» Ich musste schmunzeln.

      Das war auch der Moment, in dem ich meine Bauchschmerzen nicht mehr ignorieren konnte. Sie hatten auf dem Mount Denali angefangen, aber ich hatte sie als Muskelzerrung abgetan. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland stand der Abiball meines ältesten Sohnes Paul vor der Tür, außerdem hatte ich mich für den schon erwähnten Ultramarathon in Davos angemeldet. Zeit, zum Arzt zu gehen, hatte ich eigentlich nicht. Ich bin auch niemand, der wegen jeder Kleinigkeit zum Arzt rennt. Und zu diesem Zeitpunkt war ich ziemlich überzeugt davon, dass es sich um eine Kleinigkeit handeln würde. Ich nahm ein paar Schmerztabletten, trank Kamillentee und machte mit meinem Training weiter. Aber mit dem Krebs ist es dann wohl doch wie mit dem Wetter am Berg: So sehr du auch alles planst und vorbereitest, am Ende hast du nur zu einem sehr begrenzten Grad die Zügel in der Hand. Am Montag nach dem Abiball meines Sohnes ging ich schließlich heimlich zum Arzt. Was dabei herauskam, konnte ich meiner Familie nicht mehr verschweigen. Noch am selben Tag machte man eine Darmspiegelung. Die Diagnose: Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Ich unterzog mich einer Notoperation, um den Tumor entfernen zu lassen. Ich willigte ein, eine Chemotherapie zu absolvieren. Den Ultramarathon, der drei Wochen später stattfand, sagte ich ab, aber teilgenommen habe ich irgendwie doch – zumindest symbolisch. Bei Kilometer 33 stieg ich ein und lief einen Kilometer lang neben meiner Freundin und Trainingspartnerin Sylvie her. Zwei Tage später begann die Chemo. Da wusste ich noch nicht, welcher Brocken am Ende der Reise stehen würde. Und auch nicht, dass er 8 848 Meter hoch sein würde.

      Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon viele Berge bestiegen, aber an den Everest hatte ich nie ernsthaft gedacht. Ich sehe mich nicht als Trophäensammlerin, die auf jeden hohen Berg steigen muss, damit ich ihn von einer Liste streichen kann. Ich glaube nicht, dass ich alle Seven Summits, die jeweils höchsten Berge der sieben Kontinente, oder alle 14 Achttausender besteigen werde. Es gibt Berge, die sicher sehr prestigeträchtig wären, aber leider reizen sie mich nicht – und das muss ein Berg in meinen Augen eben tun. Ich mag diesen Gedanken, dass man eine Verbindung spüren sollte. Am Ende des Tages hat nicht der Bergsteiger das letzte Wort, sondern der Berg. Er entscheidet, wer ihn wann besteigt und wer nicht. Ich mag diese leicht spirituell anmutende Idee, und ich lebe danach. Ich erfreue mich am Bergsteigen, es gibt mir Kraft und Energie, aber das Schicksal muss ich deswegen nicht herausfordern. Dafür habe ich zu viel Respekt vor der Natur.

      Der Reiz des Everests ist übrigens nicht der Anspruch. Bergsteigerisch ist der höchste Berg der Welt keineswegs der schwerste. Was den Everest für so viele so anziehend macht, ist nicht die Schwierigkeit, nach oben zu kommen, sondern seine Höhe. Höher geht es nun mal nicht. Niemand sagt, dass er seinen persönlichen K2 bezwungen hat, wenn er eine Krise überwunden hat. Wir reden in Superlativen, nicht vom Zweitbesten. Es sind die Rekorde und die Auszeichnungen, die Größten und die Schnellsten, die uns begeistern und anziehen. Und darum ist der Everest der ultimative Berg. Darum, das gebe ich gerne zu, habe auch ich ihn als Ziel ausgewählt. Als Belohnung.

      Und deswegen bin ich jetzt hier im Basislager. Auf 5 300 Metern Höhe. In einer Zeltstadt auf Geröll, die meine Geduld auf eine harte Probe stellt.

      Die gelben Zelte, die man von vielen Fotos kennt, heben sich farblich von der grauen Landschaft ab. Was hübsch und abwechslungsreich aussieht, hat einen einfachen Grund: Die Farbe ist bei Unglücken, Schneestürmen und anderen Vorfällen, die es in die Nachrichten schaffen, einfach am besten zu sehen. Bequem sind sie nicht. Das Basislager ist kein schöner Ort. Es stimmt einen aber sehr gut ein auf das, was kommt. Darauf vorbereiten kann es einen nicht ganz. Die Wahrheit ist, dass Menschen nicht auf den Everest gehören. Wäre es so, würde es hier anders aussehen, aber auf 8 848 Metern lebt nichts mehr. Helikopter kommen hier nicht mehr her. In diesen Höhen fliegen nur noch sehr große Flugzeuge. Eine Rettung ist schwierig, nein, aussichtslos. Wer sich hinsetzt, ausruht oder seine Kräfte falsch einschätzt, hat verloren. Der bleibt für immer oben. Stehen zu bleiben ist keine Option. Zumindest nicht, wenn man seine Geschichte hinterher persönlich erzählen will. Vielleicht ist das auch Teil des Reizes dieses Berges. Er ist Weg und Ziel zugleich.

      Ich erzählte meiner Familie erst kurz vor Weihnachten 2010 von diesem Ziel. Es war der zweite Advent, und ich saß mit meinem Mann Arne, meinen Söhnen Paul und Henrik und meiner Tochter Harriet an unserem Frühstückstisch in unserem Haus in Stuttgart. Meine letzte Chemo sollte in der nächsten Woche stattfinden, danach hatten wir uns einen Urlaub im Grindelwald vorgenommen. Wir redeten über dies und das, als ich plötzlich sagte: «Ich würde gerne auf einen Achttausender.» Das Wort Everest vermied ich in diesem Moment. Ich wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Die unmittelbare Reaktion war kein entsetztes Schweigen. Dass ich auf Berge steige, war keine Überraschung. Vermutlich hätten sich alle mehr gewundert, wenn ich eine Wüstendurchquerung vorgeschlagen hätte. Aber zu sagen, dass alle in Freudentränen ausbrachen, wäre auch übertrieben. Mein Sohn Paul sagte prompt: «Gut, Mama, aber dann bitte auf den Everest.» Wenn schon, denn schon, nehme ich an. Vielleicht war diese Reaktion auch seine Art, mit der Situation umzugehen. Ich erklärte ihnen mein Ziel, die Wichtigkeit, die Dringlichkeit des Ganzen, und am Ende war ich ihnen sehr dankbar, dass sie es verstanden und akzeptierten – und vor allem dass sie mich unterstützten.

      Ich habe mich akribisch auf den Everest vorbereitet. Ich war viel im Gebirge, wo ich Marathondistanzen absolvierte, um genug Höhenmeter in die Beine zu bekommen. Dazu kamen das notwendige Krafttraining und sehr lange Skitouren – und viel Literatur. Allerdings fiel mir der Anfang der Vorbereitung sehr schwer. Ich war durch die Chemo geschwächt, hatte keine Lust, die Couch zu verlassen, fühlte mich nicht in der Lage, allzu lange Strecken zu bezwingen. Aber ich hatte ein Ziel und ich wusste, dass dieser Weg mit einem Schritt beginnt. Und darauf folgte ein Schritt nach


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