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Die Netflix-Revolution. Oliver SchütteЧитать онлайн книгу.

Die Netflix-Revolution - Oliver Schütte


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die Straßen leer, Theater und Kinos spielten vor kaum besetzten Rängen und die Zuschauerquote lag bei 89% aller Haushalte mit einem Fernsehgerät. Im Deutschen wird dieses Phänomen als »Straßenfeger« und in den USA als »Watercooler« bezeichnet. Der Ausdruck verweist darauf, dass Angestellte in ihren Pausen zu dem im Flur stehenden Wasserbehältern gehen und sich dort ein gekühltes Mineralwasser holen. Kommt ein Kollege vorbei, so folgt eine zwanglose Unterhaltung. Das Thema, über das dabei gesprochen wird, besitzt den »Watercooler Effect«. Und viele Fernsehsendungen ab den 60er Jahren besaßen die Eigenschaft, die Nation zu stimulieren, sodass sie am nächsten Tag mit den Freunden darüber kommunizierten.

      Anfang 1962 konnte sich niemand der Frage entziehen, wer denn der Täter in Das Halstuch sei. Es ging ein Aufschrei durch die gesamte Bevölkerung, als am Tag vor der letzten Folge ein bekannter Kabarettist in einer Berliner Zeitung per Werbeanzeige verriet, wer der Mörder ist.

      Aber nicht nur mit diesen herausragenden Ereignissen, insgesamt entwickelte sich das Fernsehen, als in den meisten Haushalten ein Empfangsgerät stand, zum »Lagerfeuer der Nation«. Neben Sportveranstaltungen und anderen wichtigen Events waren es vor allem Filme und Serien, die die Bevölkerung vor den Apparaten versammelten. Das Heimkino erzeugte damit Momente, wie sie das Radio bisher nur in wenigen Ausnahmen hergestellt hatte. Über Schichten und Milieus hinweg wurde eine Nation durch eine fiktionale Erzählung miteinander verbunden. Der einfache Arbeiter und der Millionär, alle verfolgten die Durbridge-Verfilmungen oder die Serie Die Firma Hesselbach. Die Erlebnisse rund um die gleichnamige Familie und ihr kleines Unternehmen sahen bis zu 94 Prozent der Fernsehzuschauer.

      Es entstand eine nationale Kultur, wie sie zuvor nur die Literatur ermöglichte. Beim Fernsehen handelte es sich jedoch um ein Massenphänomen, denn verglichen damit, waren die Auflagen von literarischen Bestsellern verschwindend gering. Auch sorgte der Umstand, dass die Sendungen von allen zeitgleich konsumiert wurden, zu einer neuen Qualität. In jenen Ländern mit einem starken Fernsehprogramm bildeten sich eigenständige nationale Fernsehkulturen. In Deutschland gab es dazu noch die Besonderheit, dass die westlichen Programme fast überall in der DDR geschaut werden konnten. Obwohl nicht erwünscht, nutzten viele Bürger des Ostens diese Möglichkeit, durften allerdings nicht am nächsten Tag mit den Kolleginnen und Kollegen offen darüber reden. So riss trotz des Mauerbaus die kulturelle Gemeinsamkeit durch das Fernsehen nie ganz ab.

      Der kanadische Philosoph und Medienwissenschaftler Marshall McLuhan hatte Anfang der 60er Jahre das »globale Dorf« vorhergesagt. Die elektronischen Medien würden, so hatte er postuliert, die Menschheit zu einem Dorf vereinigen. Seine These war, dass wie die Trommeln eines Stammes über die Geschehnisse in der nahen Umgebung unterrichten, verteilen sich die Nachrichten allen voran durch das TV über den gesamten Globus.

      Tatsächlich hat das klassische Fernsehen eher das »nationale Dorf« erschaffen, denn die Fernsehspiele, Serien, Shows und die Nachrichten vereinten die jeweiligen Nationen.

       Tutti Frutti

      Etwa 30 Jahre lang mussten die Zuschauer, um ein anderes Programm zu wählen, aufstehen und die Schalter am Gerät bedienen – eine Aufgabe, die dazu führte, dass das Programm eher selten gewechselt wurde. Die Geduld des Publikums war groß, und die Verantwortlichen bei den Sendern waren sich dessen bewusst.

      Anfang der 80er verbreiteten sich die ersten Fernseher mit Fernbedienung. Was zuerst noch ein teures Vergnügen war, wurde bald zum kostengünstigen Standard. Das kleine Gerät setzte einen Prozess in Gang, der unmerklich das Verhalten der Zuschauer und das Programm der Fernsehsender veränderte. »Zappen« wurde zum Volkssport, und die Geduld des Publikums schwand immer mehr.

      In Nordamerika führte die Fernbedienung dazu, dass Sendungen dem »Least Objectionable Programing« zu gehorchen hatten. Alle Produktionen wurden so konzipiert, dass sie keinen Widerstand erzeugten. Die Menschen vor den Fernsehgeräten sollte durch die Dramaturgie der Erzählung daran gehindert werden, aus Frust, Ärger oder Langeweile zu dem kleinen Kasten zu greifen und einen anderen Kanal zu wählen.

      In der Bundesrepublik kamen fast gleichzeitig mit der neuen Technologie die privaten Sender auf den Bildschirm. Aus den bisher drei Angeboten wurden kontinuierlich mehr, und der Bedarf auf bequeme Art und Weise das Programm zu wechseln fand mit der Fernbedienung die perfekte Erfüllung.

      Auf diesem Weg veränderten sich durch die privaten Anbieter und den Apparat in der Hand die Sendungen und die Geduld, die sie dem Publikum abverlangten. Die 14-teilige Serie Berlin Alexanderplatz von Rainer Werner Fassbinder, 1980 ausgestrahlt, wäre wenig später schon nicht mehr möglich gewesen. Die Verfilmung des Romans von Alfred Döblin, den er in den 20ern geschrieben hatte, war vielen Zuschauern zu langatmig. Auch wurden die Gewaltszenen und moralischen Verwerfungen kritisiert. Einige Jahre danach wäre dies genügend Grund den kleinen Knopf zu drücken und den Kanal zu wechseln.

      Die Fernbedienung förderte allein durch ihre Existenz die Ungeduld des Fernsehpublikums. Zudem verführte das zunehmende Angebot der immer mehr werdenden Sender zum schnellen Wechsel. Hierin unterschied sich das Fernsehen erstmals deutlich vom Kino. Wer sich im Lichtspielhaus einmal für einen Film entschieden und den Eintrittspreis gezahlt hatte, brach nicht so einfach ab, sondern ließ sich auf den von ihm gewählten Streifen ein.

      Die Fernsehsender wurden damit gezwungen ihr Publikum auf neue Weise an sich zu binden. Komplexe Geschichten sowie reizarme Sendungen verschwanden deshalb zunehmend von den Bildschirmen. So wurde zum Beispiel die 1955 zum ersten Mal ausgestrahlte Show Was bin ich? in den 80er Jahren eingestellt. Ein Format, bei dem vier Menschen an einem Tisch sitzen und einen Beruf erraten müssen, war mit der Einführung der Fernbedienung zum Quotenverlust verdammt.

      Die neue Ära der Privatsender wurde in der Bundesrepublik am 1. Januar 1984 eingeläutet. Die Programmgesellschaft für Kabel- und Satellitenrundfunk (PKS) aus Ludwigshafen nahm an diesem Tag ihren Betrieb auf. Kaum mehr als 1000 Haushalte in der Region konnten das erste private Angebot aus Deutschland schauen. Der Kanal war schon wenig später auch über Satellit zu empfangen und nannte sich ein Jahr danach in Sat1 um. Nur einen Tag nach der PKS ging mit RTLplus ein weiterer Privatsender an den Start. Dieser wurde zwar von Beginn an per Antenne übertragen, kam aber trotzdem ebenfalls nur auf eine kleine Zahl von Zuschauern.

      Was so unbedeutend begann, sollte die Fernsehlandschaft in Deutschland radikal verändern, denn es dauerte nicht lange, dann hatte sich das private Fernsehen etabliert.

      Neben der technischen Verbreitung mussten sich Sat1 und RTLplus auch inhaltlich bei den Zuschauern durchsetzen. Allen voran RTLplus versuchte dabei nicht, die öffentlich-rechtlichen Sender frontal anzugreifen, sondern bot ab Ende der 80er Jahre eine Alternative zu den von den Gesetzgebern mit einem Bildungs- und Kulturauftrag versehenen ARD und ZDF. Aus diesem Grund entstand die erotische Spielshow Tutti Frutti, und spätabends wurden »Lederhosenfilme« (also Erotikfilme) ausgestrahlt.

      Wenig mehr als zehn Jahre nach der Gründung erreichte RTL (wie sich der Sender nun nannte) 1993 mit 18,3 % seinen höchsten Marktanteil. Bald darauf war es bei Sat1 soweit, mit 14,9 % war hier der Höhepunkt erklommen. Es war die Zeit, in der die Privaten mit Fernsehspielen und anspruchsvolleren Serien den Zuschauermarkt eroberten. Die Neuen waren erwachsen geworden. Dabei konnten sie durch einige originelle Sendungen punkten. So kopierte Sat1 mit der Harald Schmidt Show erfolgreich das amerikanische Format der Late-Night-Talker.

      Dass es ab den 90er Jahren mit den Marktanteilen der privaten Sender bergab ging, hatte sicherlich auch mit einer weiteren Fragmentierung des Angebots zu tun. Und dies hing wiederum mit neuen technischen Verbreitungswegen zusammen, denn das Fernsehen kam nicht nur über die Antennen zu den Haushalten, sondern immer öfter durch Satellit oder den Kabelanschluss. Sowohl zusätzliche Privatsender, die oft Ableger von RTL und Sat1 waren, als Ausgründungen der Öffentlich-rechtlichen (wie 3Sat, Arte etc.) erweiterten das Angebot und sorgten dafür, dass die Zuschauer zwischen über 30 Sendern wählen konnten.

      Das alte Lagerfeuer wurde damit Geschichte. Es gab keine Straßenfeger mehr, von Fußballweltmeisterschaften abgesehen, die die Nation wie zuvor vereinten.


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