Coffin Corner. Amel KarboulЧитать онлайн книгу.
Strom aus. Ich hatte noch Glück, ich wohnte direkt in der Stadt. Andere Klassenkameraden kamen aus Vororten oder vom Land. Und um sich nicht zu verspäten, nahmen sie das sicherste aller Verkehrsmittel: Sie kamen zu Fuß. Auch wenn das Stunden dauerte. Verspätungen wären kein Problem gewesen. Ob der Bus überhaupt kam, war eine Frage des Glücks. Und hing davon ab, ob unterwegs ein Reifen platzte oder nicht, ob noch genügend Sprit im Tank war oder nicht, ob der Fahrer spontan bei Freunden anhielt oder nicht …
Morgen? Wenn Gott will, werden wir morgen Schule haben. Dass heute nicht mehr gelten muss, was gestern noch vehement behauptet wurde, war im Tunesien meiner Kindheit das Normalste von der Welt. In allen Lebensbereichen.
Es kommt immer anders, als du denkst. Und wenn die Ausnahme der Regelfall ist, dann ist das ja auch gar nicht schlimm. Mit dieser Haltung bin ich aufgewachsen, und diese Haltung bestimmt bis heute mein Denken und Handeln. Deshalb bin ich mir ziemlich sicher: Ich gehe mit Unsicherheit anders um als Sie.
Wer in Mitteleuropa oder Nordamerika oder Japan aufgewachsen ist, also in einem sogenannten Industrieland, hat mit größter Wahrscheinlichkeit die Erfahrung gemacht, dass der Alltag nach bestimmten, ja eigentlich nach den immer gleichen Regeln funktioniert. Das wenige Unvorhergesehene, die Ausnahme von der Regel, die Überraschung, ist dann allerdings ein Großereignis und bringt alles durcheinander.
Sie wissen, wovon ich spreche. In Bezug auf die Wirtschaft zum Beispiel spreche ich davon, dass eine ausgereifte, hoch entwickelte Technologie, mit der eigentlich alles »in Ordnung« ist, plötzlich von der Geschichte untergepflügt wird – wie der Röhrenbildschirm, der seit Jahrzehnten in jedem Haushalt, jedem Büro präsent war. Plötzlich kam eine zunächst minderwertige Neuerfindung auf, nämlich der pixelige, kleine, langsame, teure Flachbildschirm. Die Röhre war qualitativ meilenweit überlegen. Keine ernsthafte Konkurrenz. Niemand wollte seinen schönen, bewährten Fernseher gegen so ein, in jeder Hinsicht unterlegenes, Produkt eintauschen. Die Zahlen der Marktforschung konnten das belegen. Nicht jede neue Technologie ist eben automatisch besser als das Bewährte, dachten die Manager stolz. Aber innerhalb von nur wenigen Jahren war die Röhre vom Markt gefegt. Denn die Tatsache, dass die Entwicklungsgeschwindigkeit des Flachbildschirms viel schneller war als die der technisch ausgereizten Röhre, war aus den Zahlenwerken der Controller nicht ablesbar. Die Röhrenfernseher-Hersteller wussten nicht, dass sie bereits geschlagen waren, als sie noch auf der Siegesstraße fuhren.
Gerade erleben wir, dass Tesla Motors aus Kalifornien, ein Startup eines scheinbar größenwahnsinnigen Dot.com-Miliardärs, innerhalb von nur zehn Jahren zu einem milliardenschweren Unternehmen gewachsen ist, und mit seinen Premium-Elektroautos große Namen wie Porsche, Audi oder BMW ins Schwitzen bringt. Womöglich ergeht es dem Benzinmotor wie der Bildröhre. Wer hätte das gedacht?
Solch unvorhergesehene Ereignisse werfen nicht nur einzelne Unternehmen, sondern auch ganze Branchen aus der Bahn. Dass es in einem japanischen Kernkraftwerk nach einem Tsunami zur Kernschmelze kommt und ein Land wie Deutschland daraufhin quasi über Nacht den Ausstieg aus der Kernenergie beschließt, das hätte sich vor Fukushima kein Energiekonzern träumen lassen.
Im Kleinen wie im Großen gilt: Solche Überraschungen bringen die gewohnte Ordnung durcheinander. Zum Beispiel die Ordnung, wer Marktführer, Platzhirsch und eine sichere Bank ist. Diese plötzlichen, überraschenden Ereignisse werden »disruptiv« genannt, weil sie die bestehende Ordnung »auseinanderreißen«.
Okay. Das alles wissen Sie so gut wie ich. Jetzt kommt aber der entscheidende Punkt: Disruptive Technologiesprünge, überraschende Veränderungen, katastrophale Abweichungen von der Normalität – das ist nur eine bestimmte Sichtweise. Das können Sie nur dann so sehen, wenn Sie überhaupt an die »bestehende Ordnung« glauben – also wenn Sie die Haltung haben, dass die Ordnung normal ist und das disruptive Ereignis die Ausnahme. Sie können es aber auch anders sehen …
Zudem ist die Existenz solcher Überraschungen erst einmal nur ein Phänomen. Zwei Probleme gibt es damit: Erstens sterben dabei tatsächlich Unternehmen, manchmal sogar ganze Branchen. Zweitens häufen sich die Überraschungen zunehmend in unserer Gegenwart.
Auf dem Sprung
In den 1970er-Jahren waren die Weltmärkte weitgehend stabil und berechenbar: Neue Konkurrenten und neue Technologien entwickelten sich nur langsam und Knalleffekte kamen nur alle paar Jahre einmal vor. Die einzelnen Weltmärkte – für Finanzen, für Fachkräfte, für Rohstoffe oder für Produkte entwickelten sich im Vergleich zu heute relativ unabhängig voneinander und relativ langsam und kontinuierlich. Sie können auch sagen: relativ berechenbar. Heutzutage brauche ich nur die Wirtschaftszeitung aufzuschlagen, und ich finde garantiert ein Ereignis, ein Produkt, eine Firma – kurz: irgendetwas, das gerade den Markt umkrempelt. Die Welt dreht sich immer schneller und die Veränderungen werden immer heftiger. Zunehmend kürzer wird auch die Zeit, die eine Erfindung braucht, um sich durchzusetzen – und um wieder zu veralten. Das lässt sich ablesen an der Zeitspanne, die eine technische Innovation ab ihrer Markteinführung braucht, bis sie 50 Millionen Nutzer hat.
Beim Radio waren das 38 Jahre.
Beim Fernseher 13.
Beim Internet vier.
Beim iPhone drei.
Bei Facebook zwei.
Auch die Informationsmenge, die zur Verfügung steht, wächst ständig. Und das macht alles immer komplexer. Was heute in einer Woche in der New York Times steht, ist mehr Information, als im 18. Jahrhundert ein Mensch in seinem ganzen Leben zu verarbeiten hatte. Allein das technische Wissen verdoppelt sich alle zwei Jahre. Bei meinem Maschinenbau-Studium habe ich im dritten Jahr festgestellt, dass die Hälfte von dem, was ich im ersten Jahr gelernt hatte, schon wieder veraltet war. Und das ist jetzt auch schon wieder einige Jahre her …
Wie tiefgreifend sich die Wirtschaft gerade ändert, zeigt Dirk Baecker vom Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Er vertritt die These, dass die kulturelle Entwicklung der Menschheit nicht gleichmäßig vor sich geht, sondern in plötzlichen Entwicklungssprüngen, gefolgt von Phasen sehr langsamer Entwicklung, auf die dann wieder ein Sprung folgt.
Ein solcher Sprung war zum Beispiel die Erfindung der Schrift im vierten Jahrtausend vor Christus in Mesopotamien. Ein anderer, die Erfindung des Buchdrucks. Immer, wenn es einen solchen Sprung in einer »Schlüsseltechnologie« gibt, verändert sich nicht nur dieser Zweig der Wirtschaft, sondern gleich die ganze Gesellschaft, der komplette Alltag, das ganze Leben. Und zwar rasend schnell.
Laut seiner Theorie stecken wir gerade mitten in einem solchen Entwicklungssprung: in der digitalen Revolution. Das World Wide Web wurde 1995 erfunden. Aber schon jetzt hat es unsere Alltagskultur, unsere Kommunikation, unser Selbstverständnis und unser Weltbild völlig verändert. Und das ist erst der Anfang. Die digital vernetzte, globale Gesellschaft ist erst im Entstehen, und wir wissen noch überhaupt nicht, wie sie aussehen wird.
Spannend an Baeckers Theorie finde ich drei Dinge. Erstens: Der allgemeine Sprachgebrauch und die meisten Kommentatoren gehen davon aus, dass Wirtschaft und Gesellschaft sich im Laufe der Menschheitsgeschichte immer schneller verändern, sie sprechen oft vom Phänomen der »Dynaxity« – der Kombination aus zunehmender Dynamik und zunehmender Komplexität. Aber laut Baecker stimmt das nicht kontinuierlich. Wir haben nur gerade den Übergang von einer ruhigen Phase in eine beschleunigte Phase der Veränderung erlebt. Von dieser kurzen Phase der extremen Beschleunigung auf die ganze Menschheitsgeschichte zu schließen, ist womöglich ein Kurzschluss.
Zweitens bedeutet das, dass die Menschheit solche chaotischen Phasen extremer Veränderung schon öfter erlebt hat. Mit dem Blick auf das große Ganze ist der gegenwärtige Schub an Innovation und Veränderung also ganz normal.
Drittens: Was derzeit geschieht, ist verwirrend für einen Menschen, der geprägt ist von einer Gesellschaft, mit einem ruhigeren Geschichtsverlauf mit viel Ordnung und Sicherheit. Der Effekt ist in etwa so, wie wenn Sie einen Menschen aus dem Tiefschlaf reißen und zur Hauptgeschäftszeit mitten in einen Souk in der Medina von Tunis stellen.