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Schlafes Bruder. Robert SchneiderЧитать онлайн книгу.

Schlafes Bruder - Robert Schneider


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sechsundzwanzig Jahre alt. Im weiteren gab sie sich rätselhaften Kulten hin, wanderte des Nachts betend und singend durch Eschberg, setzte Kröten brennende Kerzen auf, suhlte sich nackt im Herbstlaub, ließ Mistkäfer über ihren Bauch krabbeln, verstopfte ihre Scham mit Lehm und schnitt sich zuletzt Fleisch aus ihrer linken Wange heraus. Das trug sie dann auf einem Kissen feierlich zum Kirchlein hinüber, breitete die Reliquie auf dem Altar des Hl. Eusebius, welcher angeblich auch ein Stück eigenen Fleisches vom Bresnerberg hinauf zum Viktorsberg getragen haben soll. Dies allerdings mit großer Virtuosität: Es war nämlich sein von Sonntagsschändern abgeschlagenes Haupt. Die Seffin verbrachte Stunde um Stunde kniend vor dem Altar, frug wieder und wieder die ewige Frage, weshalb ihr Gott so ein Kind hatte antun müssen. Wenn er ihr nur ein närrisches – damit meinte sie ein mongoloides – geschenkt hätte, es wäre im Dorf nicht weiter aufgefallen. Bedauerlicherweise ging Jahre später – sie hatte sich vom Kummer längst erholt und zu neuer Lebensfreude gefunden – ausgerechnet dieser fatale Wunsch bei ihrem dritten Kind in Erfüllung. So herzlos es klingen mag, aber das vorübergehende Irrsein der Mutter bedeutete für Elias den Beginn seines Lebens. Man ließ ihn, besser gesagt, er kam frei. Im Alderschen Haus war ohnehin alles einerlei geworden.

      Was aber tat Seff, dessen Zuneigung die Seinigen so not gehabt hätten? Denn es geschah, daß Elias sich bitter weinend an seine Brust warf, unfähig, ein Wort zu sprechen, einfach in der Hoffnung, der Vater möchte ihn halten, möchte ihn wortlos trösten.

      Seff schwieg.

      Und der Bruder Fritz? Wir geben ohne Hehl zu, daß er uns nicht interessiert. Fritz war zeitlebens ein so unbedeutender Mensch, daß wir ihn dem Leser am liebsten überhaupt unterschlagen möchten. Er war von jener Art des vollkommen nichtssagenden Zeitgenossen. Und tatsächlich: Aus dem Mund des Fritz Alder ist uns kein einziges Wort überliefert. Wäre eines überliefert, es interessierte uns nicht.

      Das Bild der frühen Jugend unseres Helden ist dunkel. Trotzdem gab es Momente heller Freude, die dem Leser vorzuenthalten unehrenhaft wäre. Eine letzte Episode will davon erzählen, und wir kehren zurück zum Frühjahr 1808, zum Fünfjährigen.

      Es war an einem verregneten Aprilvormittag. Etwa um die Mittagszeit stand Elias beim Fenster seines Gadens und konnte beobachten, daß ein fremdes Weib den Dorfweg heraufkeuchte. An den geschulterten Gurten und dem roten Lederkoffer erkannte er sogleich, daß es eine Hebamme war. Elias schob das Fenster auf, wollte sehen, wohin das Weib ginge. Sie war seinem Gesichtskreis schon entschwunden, darum bog er sich gefährlich weit aus dem Fenster und dann sah er, daß sie im Haus des Nulf Alder einkehrte. Etwa eine halbe Stunde später, er lag eben auf seinem Laubsack, schoß ihm ein schneidender Schmerz in den Kopf, und ins Herz ging ein Stich, und der Atem stand ihm plötzlich still.

      »Herrgott, Herrgott, was ist das?« wirbelte es durch sein kleines Hirn. »Was ist das?« Das Herz raste. »Was ist das, was ist das?« schrie er tiefkehlig, lachte und weinte gleichermaßen, sprang entsetzt auf, rüttelte an der versperrten Gadentür und hämmerte die Fäustchen gegen das braun verwelkte Wandtäfer. Und Elias rannte den Kopf in die Fensterscheibe und schrie hinab in den Wald, dahinter die Emmer floß. Schrie: »Hör nicht auf, Du! Hör nicht auf, Du!« Virgina Alder, die Nulfin, hatte ihrem Mann ein Mädchen geboren. Es war ein an Leib und Seele gesundes. Das Kind sollte auf den Namen Elsbeth getauft werden. Auf dem Seitenaltar der Muttergottes stand von diesem Tag an ein prächtiger Wiesenstrauß. Man kann sich nicht entsinnen, den Strauß jemals verwelkt gesehen zu haben.

      Und Elias schluchzte vor Freude. Er jubilierte. Jubilierte an Leib und Seele. Denn er vernahm ein wundersames Pochen, und vom Klang dieses Pochens wurde ihm zumute, als schaute er das Paradies.

      »Hör nicht auf, Du!« wimmerte das Kind hinab zum Waldrand, dahinter es jenen Klang zum ersten Mal gehört hatte.

      Es war Elsbeths Herzschlagen. Es war der Klang der Liebe.

      Die Stimme, die Tiere und die Orgel

      Zehn Jahre gelebt und zum Mann gereift. Sein Haar wurde schütter, in den Stirnecken fraß die beginnende Glatze. Weil er aussehen wollte wie alle Jungen seines Alters, versengte er sich die Bartstoppeln mit einer brennenden Kerze in dem Glauben, der Bart möchte nicht wieder sprießen. Das gewaltige Erlebnis im Bachbett der Emmer hatte sein Wachstum durcheinandergebracht. Er hatte das Aussehen und die Stimme eines Mannes, aber die Größe eines zehnjährigen Kindes. Er wollte ein Kind sein, wollte reden können wie ein Kind. Was die Merkwürdigkeit seines äußeren Erscheinens anlangte, so waren ihm Dinge zu Ohren gekommen, die der Verstand nicht begreifen konnte. Daß Elias unverdorben blieb in all dem dörflichen Schmutz von Mutmaßungen, Lügen und Verleumdungen ist allein dem Wesen seines Herzens zuzuschreiben. Es war gut. Es hatte die Kraft zu hoffen.

      Doch wird das Sonderliche, wenn es jeden Tag gesehen, zum Alltäglichen, und bald gewöhnte man sich an den Anblick dieses Mannkindes. In der Schulstube fiel es nicht auf, daß zwischen Wasserköpfen, Blatterngesichtern, Mongoloiden und Inzüchtigen ein schmächtiger Mensch mit gelbleuchtenden Augen hockte. In jener Zeit bemerkte der Dorflehrer Oskar Alder, wie elend und mager die Seffschen Buben geworden waren. Ihre Gesichtchen waren eingefallen, das Kinn überspitz geworden, unter den Augen hatten sich schwarzblaue Ringe gebildet. Denn seit Jahr und Tag kochte die Seffin ja nichts anderes als eben ihr liebloses, wäßriges Grießmus. Darum hieß Oskar Alder die Buben eine Zeit in fremde Kost gehen. Als dann die Seffin zur Besinnung gefunden hatte, gediehen auch die Söhne wieder.

      Und es geschah, daß den Elias etliche Weiber plötzlich mit lüsternen Augen zu betrachten pflegten; nicht länger nach den gelben Pupillen schielten, sondern nach dem Ort seines übermäßig entwickelten Geschlechts. Elias begriff den Sinn ihrer hellen Worte nicht, begriff nicht das hämmernde Herzschlagen zwischen ihren Brüsten. Er trachtete, diesen Weibern hinfort nicht mehr zu begegnen. Ein Weib vor allen bemühte sich um den kleinen Mann. Es hieß Burga, hauste allein, ihr Versprochener war in einem Franzosen-Scharmützel umgekommen. Die Burga liebte die Menschen und das Leben, darum hatte man sie zur Dorfhure gemacht. Sie stand in übler Nachrede, weil sie am Sonntag nicht zum Amt ging. Die Burga wäre aber gern zum Amt gegangen, hätte sie nicht in der vordersten Kirchenbank, der Ledigenbank, knien müssen. Die Ledigenbank war eine von den übrigen Weiberbänken abgesetzte Prangerbank, ein bloßer Balken ohne Rückenlehne. Dort mußten all jene Mädchen und Weiber knien, welche ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hatten. Die Burga aber war eine Abtreiberin, das war dorfbekannt.

      Zu jener Zeit beschloß Elias, öffentlich kein lautes Wort mehr zu sprechen. Das furchtbare Erlebnis am Festo Trinitatis verfolgte ihn noch bis hinein in die tiefsten Träume. Er fing an, sich und seine Baßstimme zu hassen. Wenn er aber reden mußte, in der Schule, bei der Christenlehre, dann sprach er ohne Stimmton, hauchte und flüsterte, als litte er an stetiger Heiserkeit. Diese Art zu reden strengte ihn so sehr an, daß er schließlich Kopfgrimmen bekam davon. Darum wurde er nur noch einsilbiger.

      In seiner Not ging er eines Tages hinab zur Emmer, wo er wußte, daß ihn kein Ohr hören konnte. Wie das Wasser seinen Lieblingsstein geschliffen hatte, so schliff er jetzt an seiner Stimme. Erst schrie er stundenlang alles hinaus, was es hinauszuschreien galt. Er schrie sich bis zum Rand der Erschöpfung, weil er glaubte, auf diese Weise würde der Baßton von seiner Stimme weggehen, würde letztlich ein heller Knabensopran übrigbleiben. Elias täuschte sich, denn es blieb nur Heiserkeit. Da fing er an zu weinen, ließ die Beine leblos ins Wasser hängen und glarte stumpf hinauf zum Wasserfall. Glarte stumpf in die weiße, lärmende Fontäne, in den unerschöpflich herabstürzenden Bergbach.

      Eines Juniabends, zwei Tage vor seinem elften Geburtstag, saß er wiederum schwermütig auf seinem Stein, glarte in den Wasserfall, und plötzlich ging ihm ein Licht auf. Er entdeckte, daß Wasser immer von oben nach unten fließt, daß ein Stein herabfällt und nicht bergauf, daß auch die Regentropfen fallen, ja selbst eine Heublume mit der Zeit doch zu Boden sinkt. Er hatte das Gesetz der Schwerkraft entdeckt. Also suchte er seine Stimme auf diese Ordnung zu bringen, ließ sie von der Höhe in die Tiefe gleiten, von der Tiefe in den Kopf. Nach einigen Stunden war er in der Lage, mit Kopfstimme zu reden.

      Da ereignete sich etwas Sonderbares: Er war gerade damit befaßt, die Kopfstimme in die obersten Register zu treiben, als ein Fuchsenjunges


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