China am Ziel! Europa am Ende?. Christoph LeitlЧитать онлайн книгу.
langsamer als andere erholen. Die Amerikaner haben den Vorteil einer starken Binnenkonjunktur und sind von den weltweiten Warenströmen weniger abhängig. Die Chinesen haben den Vorteil, in einer Radikalität Maßnahmen umsetzen zu können, die bei uns nicht denkbar wären.
Damit jedoch noch nicht genug, denn jedem Desaster folgt ein Wiederaufbau. Aber auch der muss finanziert werden. Klar: Vorerst ist es notwendig, die Lecks am Schiff Europa zu stopfen und den Untergang zu vermeiden. Dann aber müssen wir dieses Schiff wieder flott und seetüchtig machen! Wie bewältigen wir die Umstrukturierungskosten von traditionellen industriellen Bereichen, deren Bedeutung abnehmen wird, hin zu neuen Sektoren mit Wachstumspotential? Und was machen wir mit den riesigen Schuldenbergen, die sich jetzt als Folge der Krise vor uns auftürmen?
Vieles wird sich ändern. Die Digitalisierung wird verstärkt Videokonferenzen, Teleworking und E-Learning ermöglichen. Eine ausreichende digitale Infrastruktur wird imstande sein, die Landflucht nicht nur zu stoppen, sondern Arbeiten und Leben im ländlichen Bereich wieder attraktiver machen. Regionales Denken, Handeln und Kooperieren wird im Vordergrund stehen. Die Zeit des immer mehr, immer schneller und immer egozentrischer wird abgelöst werden durch ein einfacheres, nachhaltigeres und ökologisch orientierteres Denken. Hier verknüpfen sich die Megathemen der Europäischen Union, Gesundheit und Ökologie, und vielleicht war das Virus auch ein wichtiger Anstoß zu einer Bewusstseins- und Verhaltensänderung der Menschen in diese Richtung.
Auch das Wertesystem wird sich ändern: Menschliche Begegnungen, größere Anteilnahme am Geschehen in der nahen Umgebung und mehr Denken in Gemeinsamkeiten könnte die Folge sein.
Auch ihre Industriestrategie wird die Europäische Union einer Revision unterziehen müssen. Zu den Schwächen, die diese Krise deutlich gemacht hat, gehört beispielsweise auch die Abhängigkeit Europas von Medikamenten. Die pharmazeutische Industrie ist zu 80 Prozent in Asien angesiedelt. Gesundheitsvorsorge wird in Zukunft zu den strategisch ganz wichtigen Themen zählen.
Wir erleben derzeit aber auch, welch enorme Auswirkungen Unterbrechungen von globalen Lieferketten haben und wie ganze Industriezweige davon getroffen werden. Europa muss also eine gemeinsame Antwort auf diese Bedrohungen finden.
Das zu tun erfordert die ganze Kraft einer europäischen Gemeinschaft. Nationalstaaten sind dabei heillos überfordert. Sie haben das auch am Beginn dieser Krise wieder einmal in besorgniserregender Art und Weise unter Beweis gestellt.
Nur wenn es Europa gelingt, sein gesamtes Arsenal an wirtschaftlichen Waffen einzusetzen und so wie in der Finanz- und Eurokrise notwendige Maßnahmen rasch zu setzen, nur wenn es gelingt, seinen Binnenmarkt nicht zu unterbinden, sondern zu stärken, kann Europa auch diese Krise überwinden. Europa hat leider immer Krisen gebraucht, um vernünftige Schritte nach vorwärts zu machen. So wäre auch diesmal ein entschlossenes und vor allem solidarisches Handeln angesagt.
Als 68er-Student habe ich in den Chor miteingestimmt: »This world has lost its glory, let´s start a brand new story!« Heute würde ich, wesentlich pragmatischer geworden, sagen: »We can work it out!«.
Wo ein Wille ist, ist ein Weg. Ist kein Wille da, dann hat Corona unseren europäischen Abstieg besiegelt. Wenn doch, dann hat auch Corona als Auslöser eines neuen europäischen Aufstiegs seinen Sinn gehabt. Dann hätte uns die Krise stärker gemacht.
Corona can make or break the Union!
»Besuchen Sie Europa, solange es noch steht!« hat die Band Geier Sturzflug getextet. Ich variiere: »Gestalten wir Europa, solange das noch geht!«.
DER GENERATIONEN-BRUCH
Die Jungen demonstrieren. Das ist ihr gutes Recht. Aber wer nimmt ihre Ideen auf, versucht, darauf einzugehen und gemeinsam mit ihnen Lösungsansätze zu entwickeln?
Beispiel London: Eine Million junger Menschen demonstriert gegen den Brexit, die größte Kundgebung in der Geschichte des Vereinigen Königreiches. Und was passiert? Ein Dialog mit den Jungen? Ein Gespräch darüber, welche Erwartungen sie an die Zukunft haben, für die die heute Regierenden eine ungeheure Verantwortung tragen?
Nichts passiert. Im Gegenteil: Jene Kräfte, die in Großbritannien für den Brexit sind, setzten sich bei den Wahlen durch. Die Älteren stimmten mit überwältigender Mehrheit für die Pro-Brexit-Partei, bei den Jungen ist sie klar in der Minderheit.
So rauben sie den Jungen ihre Hoffnungen!
Und wer redet schon mit den Jungen? Die Eltern sind beschäftigt und als Doppelverdiener oft mehr als ausgelastet. Großfamilien früherer Zeiten sind Ausnahmefälle. Schulen sind überfordert. Arbeitsplätze werden zunehmend computerisiert, automatisiert, anonymisiert. Und die Politik bleibt bei ihrer administrierenden Tagesordnung.
Frühere gesellschaftliche Bindungskräfte wie Kirchen, Gemeinden, Vereine und örtliches Zusammenstehen verlieren an Bedeutung. Die Bereitschaft zum Engagement in ehrenamtlichen Vereinen ist zwar noch vorhanden, aber rückläufig. Das Netzwerk menschlicher Begegnungspunkte wird ausgedünnt.
Nicht einmal unsere Bestattungskultur ist von dieser Entwicklung verschont. Der neueste Trend: Entsorgung des Leichnams anstelle eines würdigen Begräbnisses.
Es gibt einen Generationenbruch. Die neuen Generationen richten sich ihre eigene Welt ein. In ihrer Welt der Smartphones, der Tablets, der Selfies und Whatsapp-Vernetzung fühlen sie sich wohl. Sie leben in der Welt von morgen.
Da können viele Ältere nicht mit. Sie fühlen sich als Modernisierungsverlierer.
Das ist eine weltweite Erscheinung, allerdings ist die Gefahr des Verlustes einer Brücke zwischen den Generationen in Europa besonders spürbar. Durch die demografische Vergreisung Europas bildet sich eine strukturelle Mehrheit der Alten über die Jungen. Die Jungen sind tendenziell optimistischer und kreativer, erhalten zur Umsetzung ihrer Ideen und Lebensvorstellungen aber oft keine Chance. Sie wollen vorwärts blicken durch die Windschutzscheibe des Gefährtes Europa, zu viele Ältere schauen in den Rückspiegel.
Während sich die Älteren nach nationalstaatlicher Heimeligkeit zurücksehnen, wollen Jüngere mehr Weltoffenheit und sind von der Notwendigkeit eines einigen Europas überzeugt.
Andererseits sind gerade den Jüngeren viele der Errungenschaften Europas wie Frieden und Freiheit längst zur Selbstverständlichkeit geworden. Authentische Berichte aus den fürchterlichsten Zeiten der letzten Weltkriege gibt es nicht mehr. Die Erinnerung an schwere Zeiten verblasst, und neuer Nationalismus droht Europa zur leichten Beute seiner inneren und äußeren Gegner zu machen.
Wer baut Brücken zwischen den Generationen? Wer nimmt ihre Sorgen ernst? Wer bezieht die jungen Leute viel stärker in Entscheidungen ein, die diese ja in den kommenden Jahrzehnten betreffen werden?
Meine Generation hat an die Eltern und Großeltern unangenehme Fragen gestellt: Warum habt ihr euch von Hitler verführen lassen? Warum konntet ihr nicht Frieden halten, sondern habt Abermillionen Tote zugelassen? Warum seid ihr den Schalmeientönen der Rattenfänger, des Populismus und der Demagogie erlegen?
Müssen wir uns nun selbst eines Tages fragen lassen: »Warum habt ihr verabsäumt, den ja durchaus erkannten Problemen auch Lösungen entgegenzusetzen?«?
Was habt ihr getan, um dem hilflosen Zugrundegehen von Flüchtlingen zuzusehen, während ihr vollmundig europäische Werte gepredigt habt? Warum habt ihr über die jungen Menschen gelacht, die ihren Klimasorgen Ausdruck verliehen haben? Mag sein, dass dabei in der Ausdrucksweise der eine oder andere Fehler gemacht worden ist, aber war es deswegen unberechtigt? Und was habt ihr getan nach dem Supergau durch die Pandemie, um Vorsorge für die Zukunft zu treffen? Welche Lektionen habt ihr gelernt? Welche Welt habt ihr uns hinterlassen?
Müssen wir uns das alles eines Tages wirklich fragen lassen? Und welche Antworten geben wir dann?
DER GOVERNANCE-BRUCH
Eine Studie hat kürzlich gezeigt, dass zwei Drittel unserer Welt diktatorisch oder autokratisch regiert werden und nur ein Drittel liberaldemokratisch.