Das Schweizer EU-Komplott. Carl BaudenbacherЧитать онлайн книгу.
auch ihren bisherigen Ansatz auf die Rechtsprechung des EuGH gestützt hatte, nämlich auf dessen Urteil in der Rechtssache Akrich vom 23. September 2003 (BGE 130 II 1 und BGE 134 II 10, mit Verweis auf Rs. C-109/01, Akrich). Dort hatte der EuGH festgestellt, dass das Recht auf Nachzug nur für Drittstaatsangehörige gilt, die sich bereits rechtmässig in einem EU-Staat aufgehalten haben. Zu beachten ist, dass auch das Akrich-Urteil eine neue Rechtsprechung darstellte.
In einem weiteren Grundsatzurteil vom 5. Januar 2010 entschied die Zweite öffentlichrechtliche Abteilung, dass die ausländischen Kinder des Drittstaatsangehörigen eines französischen Staatsbürgers ein Recht auf Familiennachzug nach Artikel 3 Absatz 2 litera a FZA haben. Die Abteilung betonte, dass sie nicht verpflichtet sei, die neue Rechtsprechung des EuGH zu übernehmen. Aber um eine parallele Rechtslage zwischen den EU-Mitgliedstaaten und der Schweiz herzustellen, folgte sie dem Ansatz des EuGH in seinem Urteil vom 17. September 2002 in der Rechtssache Baumbast (C-413/99 Baumbast). Die Abteilung vertrat die Auffassung, dass das Urteil Baumbast, das nach dem Datum der Unterzeichnung des FZA erlassen wurde, auf der alten Rechtsprechung des EuGH beruhte, nämlich auf dem Urteil Echternach und Moritz vom 15. März 1989 (Rs. 389/87, Echternach und Moritz). Sie fügte hinzu, der gewählte Ansatz entspreche auch dem Zweck der Familienzusammenführung und der vorherrschenden Auffassung in der Schweizer Literatur (Urteil 2C_269/2009 vom 5. Januar 2010, Erw. 4.3 ff.). Insgesamt wird die Bestimmung, wonach die nach dem Datum der Unterzeichnung ergangene Rechtsprechung des EuGH gebührend zu berücksichtigen ist, in diesen Fällen faktische als Pflicht verstanden, dieser Rechtsprechung Rechnung zu tragen, also sie zu befolgen. Die Literatur spricht denn auch von der Relativität der Frist für die Übernahme der Rechtsprechung des EuGH.
Es ist offensichtlich, dass das Bundesgericht grosse Anstrengungen unternimmt, um im Bereich der Personenfreizügigkeit einen einheitlichen Rechtsraum zwischen der Schweiz und der EU zu gewährleisten. Trotzdem gibt es keine Rechtssicherheit. Insbesondere in politisch sensiblen Fällen ist es denkbar, dass sich das Bundesgericht weigert, der neuen Rechtsprechung des EuGH zu folgen. Ein wichtiges Beispiel ist die Frage der Exportierbarkeit von Hilflosenentschädigung. In dem bereits genannten Urteil vom 24. Juli 2006 vertrat das Eidgenössische Versicherungsgericht die Auffassung, dass die Rechtsprechung des EuGH zum EU-Recht, die in diesem Bereich eine Pflicht zur Ausfuhr statuiert hat, aus der Zeit nach der Unterzeichnung des FZA stammt. Eine Übernahme dieser Rechtsprechung wurde daher als nicht gerechtfertigt angesehen (BGE 132 V 423). Dabei sind zwei Dinge zu beachten: Erstens gab es in diesem konkreten Fall gute Argumente dafür, dass die neue Rechtsprechung des EuGH auf der alten (verbindlichen) Rechtsprechung des EuGH beruht. Zweitens entschied der EFTA-Gerichtshof kurz darauf in einem Fall betreffend Liechtenstein, dass nach dem im Wesentlichen identischen EWR-Recht die Hilflosenentschädigung in andere EFTA- und EU-Staaten des EWR exportiert werden musste (E-5/06, ESA / Liechtenstein).
Angesichts der grundsätzlich integrationsfreundlichen Praxis des Bundesgerichts mögen einige in der Schweiz gehofft haben, dass der EuGH von der Anwendung seiner Polydor-Rechtsprechung auf das FZA absehen würde. Wie ausgeführt, ist die Ähnlichkeit des Wortlauts laut Polydor kein ausreichender Grund, die Auslegung der Regeln des EU-Rechts auf die parallelen Bestimmungen der Freihandelsabkommen mit den EFTA-Staaten von 1972 zu übertragen. Entsprechend kann es im Verhältnis zu Drittstaaten wie der Schweiz zu Diskriminierungen kommen, die im Unionsrecht ausgeschlossen wären.8 In den Rechtssachen C-351/08 Grimme, C-541/08 Focus Invest AG und Hengartner und C-70/09 Gasser enttäuschte die Vierte Kammer des EuGH die genannten Erwartungen. Sie verwies auf das Schweizer Nein zum EWR und wandte Polydor auf das FZA an. Bestimmte Diskriminierungen sind daher im Rahmen dieses Abkommens möglich, die nach dem Unionsrecht und dem EWRA rechtswidrig wären. Die ausdrückliche Feststellung, wonach die Schweiz das EWRA abgelehnt hat, welches den Weg für die gleiche Auslegung wie im EU-Recht geebnet hätte, zeigt, dass der EuGH daran Anstoss nimmt, dass es im Rahmen des FZA keinen Überwachungs- und Gerichtsmechanismus gibt. Und wie oben erwähnt, hat das Bundesgericht seine Rechtsprechung Stanley Adams und Omo nie revidiert.9 Hier wird ein Mangel an Präjudizienbewusstsein offenbar.
Aus der Sicht der Mehrheit des Bundesrates und der Bundesverwaltung lag eine politische Funktion des FZA darin, dass ein weiterer PNR auf dem Weg zu einem EU-Beitritt geschaffen wurde. Überdies wurde betont, dass die Personenfreizügigkeit bei einer künftigen EU-Beitrittsabstimmung keine Probleme mehr bereiten würde. Dasselbe gilt natürlich für das Landverkehrsabkommen.
2Vgl. unten, Kapitel 9, VI. 2.
4Vgl. z.B. GATT Panel Report, United States Section 337 of the Tariff Act of 1930, L/6439, BISD 36S/345 (7. November 1989).
Kapitel 2
Distanz zur EWG
I.Traditionelle Abwehrhaltung gegen supranationale Strukturen
Die Schweiz ist eines der wenigen europäischen Länder, die vom Zweiten Weltkrieg verschont geblieben sind. Laut lang herrschender offizieller Doktrin war dies eine Folge der bewaffneten Neutralität. Tatsächlich waren auch andere Gründe ausschlaggebend. Ob so oder anders: Hätte die Schweiz das Schicksal der Benelux-Länder geteilt, deren Neutralität von den Armeen Adolf Hitlers missachtet wurde, so hätte sie wahrscheinlich eine aktive Rolle im europäischen Aufbauwerk gespielt. Da dies aber nicht der Fall war, beschlossen die Schweizer, sich aus dieser Entwicklung herauszuhalten. Die Haltung der Bevölkerung gegenüber der politischen Integration in Europa war eine defensive. Das Land verblieb lange Zeit in einem selbstgewählten geistigen «Réduit». Historisch war das «Réduit Suisse» eine militärische