Das Schweizer EU-Komplott. Carl BaudenbacherЧитать онлайн книгу.
(Bilaterale I). Mit Ausnahme des Luftverkehrsabkommens, bei dem die Schweiz die Zuständigkeit des EuGH akzeptierte, funktionieren alle diese Verträge ohne supranationalen Überwachungs- und Gerichtsmechanismus. Neun weitere bilaterale sektorielle Abkommen (Bilaterale II) wurden am 26. Oktober 2004 unterzeichnet. Das zweite Paket umfasst insbesondere Abkommen über die Besteuerung von Zinserträgen und den Beitritt der Schweiz zu den Systemen von Schengen und Dublin über die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz, Polizei, Asyl und Migration.1
2.Konfliktlösung durch Gemischte Ausschüsse
Konflikte, die aus den bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU entstehen, werden seit jeher durch die Mittel der Diplomatie und nicht durch übernationale Gerichte gelöst. Diese paritätisch besetzten Ausschüsse können aber nur mit Einstimmigkeit entscheiden. Die Schweiz hat also ein Vetorecht. Formal gesehen ist es der Bundesrat, der darüber entscheidet, ob die Schweiz einer Konfliktlösung zustimmt. Vertreten ist die Schweiz aber durch Angehörige der Verwaltung. In der Praxis sind es hohe Beamte. Das EDA spielt dabei naturgemäss eine bedeutende Rolle.
Als Beispiel möge das FHA dienen. Basierend auf den Artikeln 29 und 30 FHA wurde ein Gemischter Ausschuss aus Vertretern der EWG und der Schweiz geschaffen, der für die ordnungsgemässe Umsetzung des Abkommens zuständig ist. Nach Artikel 31 Absatz 2 FHA tritt das Gremium mindestens einmal jährlich zusammen, um die allgemeine Funktionsweise des Abkommens zu überprüfen. Es versammelt sich ferner auf Antrag einer Partei so oft wie nötig. Der Gemischte Ausschuss handelt im Konsens. Seine Beschlüsse werden von den Vertragsparteien nach ihren eigenen Regeln umgesetzt. Kann der Ausschuss keine Lösung für ein Problem finden, so kann die geschädigte Partei Handelssanktionen verhängen (Art. 22 Abs. 2 FHA).
Aus der Sicht der Bundesverwaltung hat ein solches Konfliktlösungsmodell erhebliche Vorteile. Da man vor allem die Fälle im Auge hat, in denen die Schweiz möglicherweise ihre Pflichten aus einem Abkommen verletzt, wird die Möglichkeit, eine Lösung mittels Veto zu blockieren, als positiv angesehen. Dass gleichzeitig zahllose Fälle der Diskriminierung von Schweizer Unternehmen unsanktioniert bleiben, bleibt bei dieser Nabelschau unberücksichtigt.
3.Der Staat als Vormund der Privaten
Dieses Konfliktlösungsmodell, bei dem die Bundesverwaltung alles und die betroffenen Unternehmen und Bürger nichts zu sagen haben, ist ein Ausfluss einer traditionellen völkerrechtlichen Rechtsfigur, die sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat: des Prinzips des diplomatischen Schutzes. Damit wird ein Verfahren bezeichnet, mit dem ein Staat einen Anspruch gegen einen anderen Staat geltend macht, weil dieser einen seiner Staatsangehörigen völkerrechtswidrig behandelt hat.
Diplomatischer Schutz wurde zunächst hauptsächlich von kapitalexportierenden Ländern (d. h. westeuropäischen Ländern und den Vereinigten Staaten) gegen kapitalimportierende Länder (d. h. hauptsächlich Länder Lateinamerikas) ausgeübt. Das Recht des diplomatischen Schutzes und seine Entwicklung wiederspiegelt aber auch den Strukturwandel des Völkerrechts selbst. Dieses hat sich von einem Rechtsgebiet, das die Beziehungen von Staat zu Staat regelte, zu einem Feld entwickelt, das den Schutz des Einzelnen stärker in den Vordergrund stellt.
Konzeptuell ist der diplomatische Schutz ein Recht des Staates, nicht des betroffenen Einzelnen. Er beruht allerdings auf einer Fiktion: Die Schädigung einer Person wird so behandelt, als stellte sie eine Schädigung des Staates der Person dar, was den Nationalstaat berechtigt, den Anspruch geltend zu machen. Durch die Verletzung des Rechts des Einzelnen entsteht der Anspruch des Staates auf diplomatischen Schutz. Die Fiktion ist nur ein Mittel zum Zweck, dem Einzelnen Schutz zukommen zu lassen. Der Staat ist also der Vormund der Privaten.
Ein angewandtes Beispiel diplomatischen Schutzes ist das Streitbeilegungsverfahren der Welthandelsorganisation WTO. WTO-Mitgliedstaaten können frei darüber entscheiden, ob sie ein Streitbeilegungsverfahren einleiten und damit ihren Wirtschaftsakteuren entsprechenden Schutz zukommen lassen wollen. Sie sind nicht verpflichtet, solchen Schutz zu gewähren. Aus der Sicht der Privaten und Unternehmen hat das vier gravierende Nachteile:
(1)Sie müssen sich zunächst Zugang zu den zuständigen nationalen Bürokraten verschaffen und diese davon überzeugen, ihren Fall aufzugreifen. Das ist ein zeit- und ressourcenaufwendiger, intransparenter Prozess, dessen Ausgang unsicher ist.
(2)Hat ein Staat für einen seiner Untertanen einen Fall aufgenommen, so ist er in den Augen des zuständigen internationalen Gerichts alleiniger Kläger. Der Bürger bzw. das Unternehmen gibt jede Kontrolle ab. Ob Bürger- bzw. Unternehmensperspektiven Berücksichtigung finden, die sich von der Position der Regierung unterscheiden, ist offen.
(3)Der diplomatische Schutz bietet nur Teillösungen: Im Wirtschaftsrecht steht er nur nationalen Unternehmen zur Verfügung, typischerweise in Bezug auf nationale Produkte. Für ein transnationales Unternehmen, das grenzüberschreitende Operationen durchführt, ist es nicht immer einfach, eine Staatsangehörigkeitsbeziehung mit einem Staat herzustellen.
(4)Ob der Fall verfolgt wird, wird anhand von politischen Faktoren bewertet, die für die wirtschaftlichen Interessen der Individuen und Unternehmen nicht relevant sind. Regierungen zögern, Argumente zu unterstützen, die sie in späteren Verfahren binden, parallele politische Verhandlungen untergraben oder sonst unerwünschte präjudizielle Wirkungen haben.
Historisch ist die Tatsache, dass die bilateralen Abkommen auf dem Gedanken des diplomatischen Schutzes fussen, ohne weiteres erklärbar. Die ersten Verträge wurden in den 1950er Jahren mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGKS geschlossen. Auch die Freihandelsabkommen, welche die Schweiz im Jahr 1972 mit der EWG und der EGKS vereinbarte, wurden durch einen Gemischten Ausschuss administriert. Gleiches galt für die Freihandelsabkommen zwischen EWG/EGKS und den übrigen damaligen EFTA-Staaten.
Heute ist die Schweiz allerdings das einzige namhafte europäische Land, das seinen Bürgern und Unternehmen den direkten Zugang zu einem europäischen Gericht verweigert. In der EU und im EWR haben Individuen und Unternehmen die Freiheit, selber darüber zu entscheiden, ob sie in einem Fall den Gang vor ein europäisches Gericht anstreben wollen oder nicht. In der EU ist das der EuGH, in der EWR/EFTA der EFTA-Gerichtshof. Die 28 EU-Staaten sind im EuGH, die drei EWR/EFTA-Staaten im EFTA-Gerichtshof mit je einem Richter vertreten. In der Schweiz können sich Private indes lediglich an die Bundesverwaltung wenden mit der Bitte um diplomatischen Schutz. Das passt schlecht zur vielgepriesenen Schweizer Freiheit. Bundesrat und Bundesverwaltung wollen auch für die Zukunft an dieser Prärogative festhalten. Die Parlamentarier und die Kantone kennen nichts anderes und nehmen diesen Zustand als gottgegeben hin. Die Vertreter der Wirtschaftsverbände sind befangen, da sie einen privilegierten Zugang zur Bundesverwaltung haben.
4.Ausnahme: Luftverkehrsabkommen
Das Luftverkehrsabkommen ist das einzige bilaterale Abkommen zwischen der Schweiz und der EU, in dem die Rechtsdurchsetzung in den Händen einer Überwachungsbehörde und eines Gerichtshofs liegt: Es sind die Institutionen der Gegenseite, die Kommission und der EuGH. In Artikel 18 Absatz 2 Satz 1 heisst es:
«In Fällen, die sich auf die nach Kapitel 3 zu genehmigenden Flugdienste auswirken können, verfügen die Organe der Gemeinschaft über die Befugnisse, die ihnen nach den Bestimmungen der im Anhang ausdrücklich als anwendbar bestätigten Verordnungen und Richtlinien übertragen sind.»
Die im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union («AEUV») in den Artikeln 101 und 102 statuierten Verbote von Kartellen und des Missbrauchs marktbeherrschender Stellungen wurden in die Artikel 8, 9 und 11 LVA übernommen. Der Anhang des LVA enthält die Verordnungen und Richtlinien des dritten Luftverkehrspakets der Liberalisierung und anderer Vorschriften für die Zivilluftfahrt sowie die sekundären EU-Wettbewerbsregeln. Entsprechend ist der Gemischte Ausschuss nicht zuständig für Fragen, «für