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Platzspitzbaby. Franziska K. MüllerЧитать онлайн книгу.

Platzspitzbaby - Franziska K. Müller


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Weide und nachdem sie im Winter die gesamte Heuernte vertilgt hatten, wurden die gleichen Tiere, die bis anhin glücklich vor sich hin gelebt hatten, ihrem Schicksal zugeführt, worauf sie manchmal als schmackhafte Erzeugnisse, zum Beispiel in Form eines Wurstzipfels, in meinem Mund landeten. Diesem überraschenden Leckerbissen konnte ich nur Positives abgewinnen, aber auch im Kreislauf der Natur erkannte ich keine Grausamkeit, sondern eine gewisse Richtigkeit, den für mich verständlichen Lauf der Dinge. Ich schärfte meinen Verstand in ehrlichen Gesprächen mit Vater, ansonsten aber mehrheitlich allein. Da ich weder Lob noch Tadel zu hören bekam, bildete ich mir in einem Alter, in dem die Gedanken frei sind und der Blick unbestechlich, manches Urteil. In vielen Begebenheiten erkannte ich bald einen versteckten Sinn, in anderen Handlungen sofort die schlechte Absicht. Ohne elterliche Autorität, die mich beaufsichtigte, schützte, förderte, mir aber auch keine Verbote und Einschränkungen auferlegte, entwickelte ich mich zu einem eigenständigen Wesen. Ich war kein kleines Kind mehr und erkannte auch, dass die wichtigsten Fragen nicht von den Erwachsenen, sondern von mir selbst beantwortet werden mussten.

      Nicht zu wissen, aus welchen Gründen Mutter sich selbst und unsere Familie zerstörte, wieso sie keine Verantwortung für ihre Handlungen übernahm und meine diesbezüglichen Fragen mit Ausreden quittierte, beelendete mich lange Zeit. Eines der wenigen Geschenke, die sie mir machte – eine Ausgabe des »Kleinen Prinzen« –, öffnete mir in diesem Punkt die Augen: Auf seiner Reise über die Planeten begegnet der kleine Prinz einem Mann, der stumm vor einer Reihe leerer Flaschen und einer Reihe voller Flaschen sitzt. »Was machst du da?«, fragt er den Säufer. »Ich trinke«, antwortet dieser mit düsterer Miene. »Warum trinkst du?«, will der kleine Prinz wissen. »Um zu vergessen«, antwortet der Säufer. »Um was zu vergessen?«, erkundigt sich der kleine Prinz. »Um zu vergessen, dass ich mich schäme«, gesteht der Säufer mit gesenktem Kopf. »Und weshalb schämst du dich?«, erkundigt sich der kleine Prinz, der den Wunsch verspürt, dem traurigen Mann zu helfen. »Weil ich saufe«, erklärt der Säufer und verfällt in missmutiges Schweigen. Der kleine Prinz verstand, so wie ich als Drittklässlerin zu verstehen begann. Ich erkannte Mutters Kraftlosigkeit, ihr Selbstmitleid, das mangelnde Verantwortungsgefühl, und ab diesem Zeitpunkt bekämpfte ich diese Defizite in meinem eigenen Verhalten aktiv. Bedroht und negiert von einer Person, die dem Tod bald näher stand als dem Leben, hätte man annehmen können, dass ich den Drang verspürte, Entsetzen und Demütigungen in der einen oder anderen Weise weiterzugeben. Aber so war es nicht. Meine innere Reißleine funktionierte immer. Bereits als Primarschülerin erkannte ich, wenn ich etwas falsch gemacht, mir selbst oder anderen Schaden und Schmerz zugefügt hatte, und es wurde mir unmöglich, dieses Verhalten zu wiederholen.

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