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Travestie der Liebe. Else FeldmannЧитать онлайн книгу.

Travestie der Liebe - Else Feldmann


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Kleider, bunte Hüte, spinnwebdünne Strümpfe und Lackhalbschuhe für alle Tage. Die Frauen trieben hier einen Luxus, und sie wollten nicht nachstehen. Es blieb ihnen die Freude, auf der Straße hübsch angezogen zu gehen. Sie arbeiteten über Mittag im Bureau; das gab Überstundenbezahlung. Bald kamen sie darauf, daß sie von der Welt nicht viel zu sehen kriegten.

      Ihre beiden Schreibmaschinen standen in einem Verschlag, der nicht größer als zwei Quadratmeter war und kein Fenster hatte. Den größten Teil des Tages verbrachten sie in diesem Raume, und abends waren sie so müde, daß sie nur den einen Wunsch hatten, sich irgendwo hinzulegen und zu schlafen. Sie waren wie dürre Früchte, welk, um Kraft und Leben gebracht.

      Wenn sie am Abend zusammensaßen, sagte Lieschen: »Sollen wir keine Freude haben? Nichts?«

      Und Annette sagte: »Ja, wir könnten etwas unternehmen, unsere Lebensgeister zu erfrischen. Wie wäre es, wenn wir uns über den Sommer auf dem Lande einmieteten?«

      Mutig überwanden sie alle Schwierigkeiten. Selbst die Aussicht, täglich zweimal eine Stunde Dampferfahrt in die Stadt ins Bureau und zurück, bedeutete eher ein Vergnügen als eine Last.

      Sie hatten es sehr gut getroffen, ein großes Zimmer auf einem Landgut, das gleichzeitig an Gäste vermietete, gefunden. Dort wollten sie bis in den Herbst hinein bleiben, bis es kalt würde. Wenn sie das Bureau um sechs Uhr verließen und noch den Dampfer erreichten, konnten sie um sieben Uhr abends auf dem Lande sein. Es waren die aufregenden Tage der Mitternachtssonne, die weißen Nächte.

      Sie saßen in ihrem Zimmer, auf dem Erker, und übersahen das weite, felsige Land, sahen die Wälder und den See. »Es ist doch gut, daß wir Mut hatten und die Stelle annahmen, wir wären sonst ewig in Hamburg festgesessen.« »Jawohl«, sagte Lieschen. »Aber ich bin schon zu müde. Die hellen Kleider machen mir keine Freude mehr; die letzten zehn Jahre, die vergangen sind, haben all meine Jugend mitgenommen. Nun werde ich alt und grau, o wie traurig …«

      Annette blitzte sie mit ihren Augen an und sagte: »Nein, warte nur …« Aber Lieschen schüttelte den Kopf.

      Und der Abend verging ihnen wie gewöhnlich, indem sie über die Liebe redeten – was hätten sie anderes tun sollen? »… Es soll ein Glück geben«, sagte Lieschen mit verhängter Stimme, »ich weiß es nicht. Zwanzig Jahre Bureau habe ich hinter mir, zwanzig Jahre Schreibmaschine. Was kommt dabei heraus? Ich sah es, wie unser Geschäft vergrößert, Aktiengesellschaft wurde, wie es sich ausbreitete über Länder; wir sind in Deutschland, in Schweden, in Spanien, in England. Ich habe an der Schreibmaschine meine ersten weißen Haare bekommen; meine Wangen sind verblüht, meine Augen sind schwach, sie sehen kaum den Frühling noch; mein Herz ist traurig und vereinsamt.«

      Eines Abends saßen sie wieder beisammen; sie sprachen von einem Fremden, der seit einigen Tagen im Hause war und der immer allein an seinem Tische saß. Ein ungewöhnlich schöner Mensch, jung, mit hellbraunem Haar, und herrlich groß und schlank gewachsen. Er hatte ein Leiden und hinkte ein wenig. Er trug grauen Sportanzug und Cowboyhut. Man sagte, daß er Turnlehrer sei und in der Stadt eine Anstalt für schwedische Gymnastik habe.

      Nachts im Bett setzte sich Lieschen auf; sie seufzte ein paarmal; es war, als stöhnte sie. Es blieb so hell, daß man nicht einschlafen konnte.

      Annette hob den Kopf, sah hinüber zu Lieschen und lachte. Der Fremde im Hause hatte sie fröhlich gemacht.

      Lieschen aber verbarg das Gesicht in den Händen. »Ach«, sagte sie und begann leise zu plaudern, »eine Erinnerung verfolgt mich. Das Grausigste, das ich je sah. Ich war achtzehn Jahre alt, da kam zu unseren Unterhaltungsabenden eine Dame. Sie war mehr als vierzig, machte sich aber mit allen Mitteln jung, so daß sie glaubte, wie dreißig auszusehen, und benahm sich auch danach. Sie drängte sich zur Jugend, und als einmal jemand Klavier spielte und getanzt werden sollte, stellte sie sich in die Reihen der Tanzenden. Alle wurden geholt, nur sie blieb allein. Und den ganzen Abend sprach nicht ein einziger Mensch ein Wort zu ihr. Man lachte und verhöhnte sie. Sie schien es nicht zu merken und kam jedesmal wieder und saß allein, ging allein weg. An sie habe ich nie aufgehört zu denken, und manchmal ist es mir, als wäre ich es selbst, dann muß ich weinen vor Gram …« Sonntag früh ging Lieschen auf die Erdbeerwiese. Die Sonne kam weiß aus weißen Wolken hervor, legte sich mit all ihrer Breite über den See. Es roch nach Rosen und Erdbeeren. Die großen Lupinen welkten unten am Stamme, während oben neue Blüten wuchsen. Lieschen ging in ihrem weißen Kleid über die Wiesen. Mit festgeschlossenem Munde summte sie heute ein Lied.

      Auf einer Bank in der Sonne saß der Fremde, als sie vorbeikam, stand er auf und grüßte. Er fragte sie in schwedischer Sprache, ob sie sich nicht ein wenig niedersetzen wolle. Sie konnte gar nichts anderes tun. Er sprach lange zu ihr, sie wußte kaum, was er sagte. Sie betrachtete sein braunes, zärtliches Gesicht. Zum Schluß hielt er ihre Hand und ließ sie nicht los. Einmal fragte er nach Annette. Aber gleich darauf beugte er sich über ihre Hand und drückte seine Lippen darauf. Ein Mann kann die Hand einer Frau küssen, und es kann sein, als küßte er ihre Lippen. Seine Augen konnten dabei sprechen: noch darf ich deine Lippen nicht berühren, darum berühre ich deine Hand. Lieschen riß sich los. Sie lief davon. Sie rannte am Ufer des Sees hin. Sie stieg die Klippen hinauf, immer höher, bis sie an einer Felswand stand. Daneben wuchs Gras, Blumen standen im Schatten: Enzian. Lieschen glitt nieder, drückte ihr Gesicht auf die kühlen Pflanzen und weinte; und als sie ihren Kopf hob, lachte sie in zitternder Freude, während noch Tränen über ihre Wangen rollten. Nun hab’ ich es und bin verrückt, dachte sie.

      Aber dann nahm sie sich zusammen und ging langsam und ruhig nach Hause.

      Ehe sie bei Annette anklopfte, legte sie ihr Gesicht in trübe Falten, damit diese ihr nicht das Glück anmerke.

      Um drei Uhr nachmittags, als Lieschen auf dem Sofa schlief oder nur so tat, um ungestört träumen zu können, lag Annette im Garten in der Hängematte. Der Fremde saß bei ihr und sprach mit ihr von seiner Liebe. Er lud Annette für heute nacht zu einer Fahrt im Motorboot ein. Diese letzte Gnade erbitte er sich vom Schicksal, setzte er dazu. Annette sah ihn erschrocken an, gab ihm die Hand, die er an sein Herz drückte. Sie war von dieser Minute an in ihn verliebt.

      Die Gäste saßen bei der Jause. Der Fremde saß wie gewöhnlich allein und an einer gesonderten Stelle; für ihn wurde allein gedeckt.

      Da trat ein Gast, ein vornehmer Herr, Kurhausbesitzer und Herausgeber der Bäderzeitung, zu Lieschen und Annette und hielt eine feierliche Ansprache: »Meine Damen, hier treibt ein junger Mann sein Wesen; es ist nicht ratsam, ihm für seine Torheiten Gehör zu schenken. Wir sahen, daß er sich an Sie heranschlich, um Ihnen Schmeicheleien zu sagen und Sie für seine Absichten, die dunkler Art sind, zu gewinnen. Um es kurz zu sagen, wir warnen Sie, mit dem jungen Mann zu sprechen. Unter dem Vorwand einer Turn- und Tanzschule betreibt er etwas ganz anderes in der Stadt. Er besucht alle möglichen Orte und sucht Damenbekanntschaften zu machen. Doch alles dient ihm nur für sein Geschäft. Er annonciert auch in den Tageszeitungen, er suche eine Vorsteherin – jawohl, eine Vorsteherin für ’sein Haus’. Hier deckt man für ihn allein. Man kann nach den Gesetzen ihm nicht den Aufenthalt verbieten; man meidet ihn; jetzt wissen Sie alles, meine Damen …«

      »Ich werde dir etwas sagen«, redete Lieschen die schweigende Annette vor dem Einschlafen an. »Kann es nicht ebensogut Klatsch sein? Was verpflichtet mich, zu glauben, was man sagt, und wäre es wahr! Finden nicht auch Männer, die ein ’schlimmes Gewerbe’ betreiben, Frauen, die liebend zu ihnen halten; werden Wucherer, Diebe, Betrüger, ja sogar Mörder nicht von Frauen geliebt? Gibt es ein Gestrüpp menschlicher Verderbnis, wo nicht die Liebe hinkommt?«

      »Sprichst das du?«, erwiderte Annette. »Mit deinen achtunddreißig Jahren, mit deinem streng geschlossenen Munde! …« Sie sagte nichts mehr.

      Später zogen sie die Vorhänge etwas dichter zu, um von der hellen Nacht nicht gestört zu sein. Annette schlief wirklich ein; sie war ein gesunder, junger Mensch mit gutem Schlaf, mit einem normalen Herzen. In Lieschen wirkte der Zauber fort. Sie lag wach und träumte sich in ein heißes Empfinden hinein. Über ihre Seele war die Offenbarung der Liebe gekommen. Nun war sie bereit, alles zu tun …

      Es war zwei Uhr nach Mitternacht, als sie an ihrer Tür klopfen hörten.


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