Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer. Markus MaederЧитать онлайн книгу.
Kein Einweichen, kein Weichspülen hilft. In der Schweiz genauso wenig wie in der EU. Neun Stunden sollst du fahren im Tag. Zwei Stunden darfst du anderweitig arbeiten, zum Beispiel warten. Von der elften bis zur vierundzwanzigsten ebenso. Und noch ein Gebot. Nach viereinhalb Stunden Fahren sollst du drei viertel Stunden pausieren. Du kannst sie auch auf fünfzehn und dreißig Minuten aufteilen. Zweimal pro Woche sind zehn Stunden Fahrzeit erlaubt. Über Nacht sind elf Stunden Ruhezeit Pflicht. Dreimal pro Woche reichen neun Stunden. Wer sich um diese und viele andere Vorschriften foutiert, wird nicht lange fahren. Die Bußen sind saftig, der Entzug des Führerscheins geht an die Substanz. Wehe dem, der glaubt, ohne Scheibe fahren zu können. Die Scheibe rausnehmen gilt in der EU als Urkundenfälschung. Doch wer niemals eine Fünf gerade sein lässt, bringt es als Fernfahrer kaum auf einen grünen Zweig.
Jetzt, am San Bernardino, hat Walo neue Wege und ein Mittel gefunden, den Paragrafenreitern ein Schnippchen zu schlagen. Es geht darum, den sogenannten S-Verkehr zu beanspruchen. Der S-Verkehr begünstigt die Fahrer im Schweizer Binnenverkehr. Wer wie Markus heute Morgen in der Schweiz geladen hat und auch wieder ablädt, bleibt nicht an den Ausstellplätzen vor den Pässen hängen. Indem Walo mithilfe der Scheibe glaubhaft macht, in Lugano geladen zu haben, braucht er am Fuß des Passes nicht zu warten, bis sie uns alle zwei Stunden einmal in einer langen Kolonne zur Anfahrt durch den San-Bernardino-Tunnel winken.
Damit alles mit scheinbar rechten Dingen zugeht, zaubert Walo einen Umlad in seine Papiere, und um diesen Umlad mit den Angaben auf der Scheibe in Einklang zu bringen, schaltet er seine Scheibe auf den Modus Arbeitszeit. »Kreative Gesetzesinterpretation«, sagt Markus, »das würde ich nicht riskieren.«
Ich sage: »Ihr werdet gepiesackt und wollt wenigstens euren Spaß daran haben.«
Aber Walo widerspricht grinsend: »Nein, nein, die Gesetze dienen allein unserem Wohl. Wir können ihnen nicht besser dienen, als wenn wir sie so interpretieren, dass sie diesen Zweck auch erfüllen.«
Im Bündelchen der Zeitungen, das wir uns für eine ruhige Minute aus der Bar mitgenommen haben, fällt mein Auge auf die Zeile: »Was für ein Land, das die Menschen dazu zwingt, sich mit illegalen Mitteln durch den Alltag zu schleppen.« Mein naheliegender Gedanke, die Geschichte drehe sich um Trucker in Deutschland und in der Schweiz, erweist sich auf den zweiten Blick als falsch. Es geht um Pedro Gutiérrez’ »Schmutzige Havanna Trilogie«, um diese literarische Dauererektion, die dem Helden Pedro Juan über vierhundert Seiten das Überleben in der täglichen kubanischen Katastrophe gestattet. Markus dreht das Radio an, und wir hören:
I’ve been all around this great big world To Paris and to Rome And I’ve never found a place that I Could really call my own But there’s a place where I know The sun is shining endlessly And it’s calling me across the sea So I must get back to San Bernardino
Well I’m older and I’m wiser And I’ve seen the light of day And I think it’s time to realize My dreams have gone astray But I tried so hard to reach that star That was so far away
Truckerfreuden, dass einem fast die Tränen kommen. Wieder mal führt der Zufall Regie. Auf unseren Hochsitzen schwelgen wir in der Stimme aus dem Radio, schauen durch den Mückenfriedhof auf der Frontscheibe hinab aufs automobilistische Niedrigwild um uns herum und fressen Asphalt, um bei Bellinzona in die sich verengende Ritze des Misox Richtung San Bernardino einzurollen.
So now I gotta find that road That’s leading home to San Bernardino
Ob ich das auf der Blues Harp hinkriegte? Ich lege mir die Töne zurecht für meine Hohner in G. Nicht dass ich sie nach den Regeln der Kunst so zu quälen verstehe, dass die Herzen der Hörer zu schluchzen beginnen. Eher quäle ich damit meine eigenen Ohren – und treibe es heimlich. Wildwestmelodien sind nicht allzu schwierig. Blood in the Saddle zum Beispiel. Oder Spiel mir das Lied vom Tod. Diesen ersten Heulton in den Keller ziehen und wieder aufjaulen zu lassen, hatte ich in meinen Rucksackreisejahren ein paar Hundert Telefonstangen weit geübt. Bis die Drähte zu weinen begannen. Zu schade, habe ich dieses kleine Ding jetzt nicht dabei. Home to San Bernardino. Gerade, als der Refrain zum letzten Mal kommt, ruft Walo an. Er hat kalte Füße bekommen: »Du, Markus, ich glaube, ich habe Scheiße gebaut. Mein Tank ist doch plombiert. Wenn ich da erwischt werde, wirds teuer.«
»Nein, nein, lieber Walo, hast Glück«, sagt Markus nach kurzer Überlegung und freut sich für ihn: »Es ist ja keine Zollplombe. Sie ist von der Firma. Es ist alles okay.«
Kurz darauf, am Ende der Talsohle, hält uns ein Security-Mann an: »Wo haben Sie geladen?«
Beide: »In Lugano.«
Er sagt okay und winkt uns durch. Hat der Mann nicht einen traurigen Job? Muss sich immer wieder nach Noten belügen lassen. Eine Reihe roter Plastikzylinder auf dem Asphalt weist uns nach links auf die Durchfahrstrecke. Auf der rechten Spur steht eine Kolonne von mindestens drei Dutzend Sattelschleppern. Darunter die fünf ungarischen von Tatratrans. Und tschüss. Home to San Bernardino.
Fünfundzwanzig Tonnen Sonnenblumenöl über die Alpen zu ziehen, ist auch für vierhundertsechzig Pferde Schwerarbeit. Ich stelle mir Rudolf Kollers Gotthardpost vor und wie breit seine Leinwand sein müsste, damit man vierhundertsechzig Pferde anschirren könnte. Lostallo, Cabbiolo, Soazza … In der ununterbrochenen Steigung kriechen und riechen wir an den Dörfern vorbei, während sich die Kühe an den Bäumen den Nacken kratzen. Ich bin schon öfter über den San Bernardino gefahren, aber noch nie mit so viel Zeit, um den Blick schweifen zu lassen. Von so hoch oben. Keine Leitplanke versperrt die Sicht in die Ferne, hinauf in die Firne. »Mit der Viper ist das anders«, sagt Markus. Sein geliebter Sportwagen. »Der Blick auf die Straße ist beschränkt, du spielst dauernd mit dem Gas und verdrehst dir Hals und Augen um den nächsten Fels.«
Das Schweizer Radio, das Markus den Hirtensender nennt, gratuliert Frau Bertha Abächerli, die eben im Alters- und Pflegeheim Sonnenruh in Amsoldingen ihren Fünfundneunzigsten feiern darf und heute Nachmittag ein Bsüechli ihrer vier Kinder, elf Enkel und sechsundzwanzig Urenkel erwartet. Nach einer Reihe Sechsundneunzig- bis Neunundneunzigjähriger folgen zwei diamantene Hochzeiten und eine eiserne. Dann erklingt Im schönsten Wiesengrunde, passend zum Blick hinunter auf die Moesa, die zu unserer Rechten durch den saftig-grünen Talboden Richtung Adria perlt. Weiter oben führt uns eine Barriere weg von der Autobahn auf die alte Passstraße. Auf der schmalen, gewundenen Strecke streifen uns die Lärchen und die Arven am Rand wie eine Liebkosung aus der Hand der Natur, eine Geste des Verzeihens für den Lärm und die Abgase, mit denen wir sie belästigen. In den Haarnadelkurven muss ich bei heruntergedrehtem Fenster schauen, ob kein Niedrigwild im toten Winkel rechts nach vorne huscht, aber meistens sehe ich nur den keuchenden Walo, an dem ebenfalls kaum einer vorbeikommt. Er hat einen etwas längeren Auflieger als wir; er schafft die engsten Radien nur, wenn er bis auf die Grasnarbe ausholt.
Die fünfundzwanzig Tonnen Sonnenblumenöl haben ihren Preis. Wir fahren im Gang vier/hoch, das heißt im neunten von sechzehn, nicht ganz mit Vollgas, um die vierhundertsechzig Pferde zu schonen. Durstig genug sind sie ohnehin. Die Anzeige gibt einen Durchschnittsverbrauch von 86,4 Liter Diesel auf hundert Kilometer an. Seit heute früh haben wir einundsiebzig Liter verbraten – und sind noch nicht ganz oben. Allmählich begreife ich, wie viel Walo die freie Gesetzesinterpretation und das S einbringen. Wer im Konvoi raufmuss, wie unsere fünf Ungarn, lernt leiden, besonders, wenn er etwa einen Holländer vor sich hat, der sich, ausreichend für sein plattes Land, mit dreihundertachtzig Pferden begnügt. Er bremst in jeder Kurve die Stärkeren aus, man muss schalten, wieder beschleunigen, und wenn es genügend steil ist, kommt man gar nicht mehr weg.
Markus hängt in Gedanken immer noch dem Tropfenzählsystem im Talboden nach: »Noch schlimmer ists in Biasca, Gotthard-Südrampe. Da stehen oft über hundert und warten drauf, sich um die rot-weißen Plastikzylinder eines Parkplatzes zu schlängeln, oft über Stunden. Alle paar Sekunden wirds für ein Fahrzeug grün. Nur für eins. Auch wenn die Strecke frei und kaum befahren ist. Reine Schikane. Das Gemeinste daran ist für uns, dass die Stunden auf den Abstellplätzen als Fahrzeit gelten, obwohl man nicht wirklich fährt. Kaum ist man dann wieder auf der Strecke, bremst einen die Scheibe mit ihren Ruhezeitpflichten aus.«
Aber