Das Gewicht von Schnee. Christian Guay-PoliquinЧитать онлайн книгу.
hatte ich ein paar Stunden Ruhe, bevor der Schmerz mir wieder den Blick verschleierte.
Ich hab’s gewusst, seufzte der Apotheker, er wird all unsere Medikamente aufbrauchen.
Dank der Spritzen und Tabletten konnte ich schlafen. Doch beim Aufwachen wusste ich nie, ob ich wenige Minuten, ein paar Stunden oder mehrere Tage geschlafen hatte. Oft träumte ich, dass mich jemand zu Boden drückte und mir die Beine abhackte. Mit einer Axt. Das war kein schlimmer Traum, ich fühlte mich befreit.
Meine Onkel und Tanten kamen mich oft besuchen. Auch wenn ich alle um mich herum nur als Schemen wahrnahm, hörte ich sie reden, Geschichten und Witze erzählen. Eines Tages erklärten sie, dass sie nicht länger warten könnten. Die Jagdsaison hatte begonnen. Mehrere Familien waren schon in den Wald gegangen. Es gab immer noch keinen Strom, und sie mussten Vorräte für den Winter anlegen.
Wir ziehen in die Jagdhütte, verkündeten sie. In ein paar Wochen sind wir zurück, mit Fleisch, viel Fleisch. Wir hätten dich gern mitgenommen, aber das geht leider nicht. Mach dir keine Sorgen, du bist hier in guten Händen. Sie haben uns versprochen, dass sie sich gut um dich kümmern. Konzentrier du dich darauf, wieder gesund zu werden.
Sie verabschiedeten sich reihum von mir und verließen das Zimmer. Am liebsten hätte ich sie zurückgehalten.
Später kamen einige Leute zu mir. Der Patrouillenmann, die Tierärztin und der Apotheker waren auch dabei. Jemand ergriff das Wort und sagte, ich könne auf keinen Fall länger hierbleiben. Ich spürte ihre Blicke über die Wände huschen, zu Boden fallen, in den Ritzen verschwinden. Niemand wollte eine zusätzliche Bürde. Vielleicht hätte man mich besser unter dem Auto liegen gelassen. Die Tierärztin brach das Schweigen und sagte, sie könne sich bis zur Rückkehr meiner Verwandten um mich kümmern. Der Apotheker fiel ihr sofort ins Wort.
Wie stellst du dir das vor? Er kann nicht zu uns. Wir haben genug für ihn getan. Wir haben noch andere Patienten.
Der Patrouillenmann trat vor, als wollte er einen Gegenvorschlag machen. Sagte aber nichts.
Ich kann die Sache beenden, fuhr der Apotheker fort. Das wäre vielleicht für alle das Beste. Ihr seht doch, wie er leidet.
Schweigend suchte die Tierärztin den Blick des Patrouillenmanns, der immer noch mitten im Raum stand. Und daraufhin, glaube ich, kam ihnen die Idee mit dem Alten in dem Haus oben am Waldrand.
Ihr wisst schon, der Alte, der im Frühsommer bei uns aufgetaucht ist. Er hatte Probleme mit seinem Auto und war auf der Suche nach einer Werkstatt. Dann fiel der Strom aus, und er saß hier fest. Er ist in das leere Haus oben am Waldrand gezogen. Ab und zu, wenn er runter ins Dorf kommt, sage er, er müsse zurück in die Stadt. Seine Nachbarin komme ihn abholen. Aber sie ist nie aufgetaucht. Niemand glaubt ihm so richtig. Jedenfalls nimmt er die Lebensmittel, die wir ihm zuteilen, immer gern. Neulich bin ich ihm vor der Kirche begegnet. Wir haben uns kurz unterhalten. Sicher, er ist alt. Aber er wirkt kräftig und erstaunlich klar im Kopf.
Der?, fragte der Apotheker erstaunt. Vor einiger Zeit wollte der einen Transporter stehlen. Ich habe ihn dabei erwischt, wie er sich an der Tür zu schaffen machte. Er hat so getan, als ob nichts wäre. Ziemlich durchtrieben, der Alte. Aber warum nicht? Soll er sich um den Verletzten kümmern.
Fünfundvierzig
Heute Morgen macht Matthias wie immer seine Übungen. Mit der Konzentration eines Hexenmeisters vollführt er eine Abfolge ruckartiger Bewegungen und ausladender Dehnungen. Manchmal verharrt er mehrere Minuten in einer bestimmten Position. Seine Ruhe ist kraftvoll, tief. Aber meist reiht er unter lautem Atmen eine Bewegung an die andere. Er beugt sich vor, richtet sich auf, verdreht sich. Seine Gesten sind groß und geschmeidig. Im Ausatmen tönt die Kraft seines Zwerchfells. Er sieht aus, als kämpfte er in Zeitlupe, gegen einen Fremden, einen Bären, ein Monster. Irgendwann, unvermittelt, beendet er die Übungen, richtet sich triumphierend auf, beginnt den Tag.
Es ist schon seit einer ganzen Weile hell, aber die Sonne lugt kaum über die Baumwipfel. Nur hier und da dringen Lichtstrahlen durchs Unterholz. Mit dem Fernrohr suche ich die Umgebung ab. Im Schnee gibt es, abgesehen von Matthias schweren Abdrücken und den Hüpfern eines Eichhörnchens, keine Spuren. Die anderen Tiere haben sich in den Wald zurückgezogen. Führen dort, abseits der menschlichen Blicke, ihren Überlebenskampf.
Matthias kocht Kaffee. Weil das Pulver langsam zur Neige geht, mischt er unter jeden Löffel frischen Kaffee zwei Löffel Kaffeesatz.
Als man mich hierhergebracht hat, war er auch gerade dabei, Kaffee zu kochen. Meine Erinnerung an den Duft, der den Raum erfüllte, ist seltsam eindringlich. Als Matthias die Tür öffnete, stand vor ihm im Regen die Tierärztin. Dahinter der Patrouillenmann und der Apotheker mit der Bahre, auf der ich lag. Matthias bat sie alle herein und servierte Kaffee.
Das Fieber und die Antibiotika hatten mich in eine Lethargie versetzt. Kein Schlaf, aber ein Dämmerzustand irgendwo zwischen Wachtraum und Koma. Ich konnte mich nicht bewegen, nichts sagen, aber alles hören.
Wer ist das?, fragte Matthias und beugte sich über mich.
Der Sohn des Automechanikers, antwortete die Tierärztin. Er hatte einen Unfall.
Der Patrouillenmann sah sich im Raum um. Ein Holzofen, ein Schaukelstuhl, ein Tisch, ein Sofa. Vor dem Fenster ein schmales Bett.
Sie haben es ja gemütlich hier, bemerkte er.
Als ich hier ankam, stand das Haus leer. Ich bin in die Veranda gezogen, so lange bis …
Bis was?
Matthias zögerte.
Bis meine Nachbarin mich abholt, sagte er schließlich. Es dauert, aber sie wird kommen. Ganz sicher. Sie weiß, dass ich zurück in die Stadt muss. Sie versteht meine Lage.
Der Patrouillenmann rieb sich das Kinn.
Das sagen Sie schon eine ganze Weile, oder? Warum wollen Sie denn unbedingt zurück in die Stadt? Schon unter normalen Umständen dauert die Fahrt acht Stunden, aber jetzt, wo der Strom ausgefallen ist, kann man nicht einfach ins Auto steigen und losfahren. Überall sind Straßensperren. Kriminelle und bewaffnete Gruppen machen die Gegend unsicher. Ich habe gehört, in der Stadt herrscht Chaos, kaputte Autos stehen auf den Kreuzungen, Geschäfte werden geplündert, die Leute fliehen aufs Land. Vielleicht hat etwas oder jemand Ihre Nachbarin aufgehalten, sagte der Patrouillenmann. Er wog seine Worte sorgfältig ab.
Sie wird kommen, beharrte Matthias. Sie wird kommen.
Und was, wenn nicht? Was haben Sie dann vor? Vielleicht einen Transporter stehlen?
Matthias starrte in seine Tasse.
Es gibt nirgends mehr Sprit, das dürfte Ihnen doch klar sein.
Ich muss zurück in die Stadt, wiederholte Matthias.
Dann schwiegen sie, glaube ich, eine ganze Weile, als hätten sie einander nichts mehr zu sagen. Schließlich ergriff der Patrouillenmann noch einmal das Wort.
Wir haben Glück im Unglück, unser Dorf liegt mitten im Wald. Der Stromausfall macht es uns nicht leicht, aber wenigstens haben wir die Lage unter Kontrolle. Wir bewachen den Ortseingang, wir rationieren unsere Vorräte, wir helfen uns gegenseitig.
Matthias reagierte nicht, er wartete darauf, dass der Mann weitersprach.
Wissen Sie, einige von den Leuten hier überlegen, eine Expedition zu machen, falls der Strom nicht wiederkommt. Um Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen. Sie wollen in die Dörfer an der Küste fahren und von da weiter in die Stadt. Wollen nach Familienmitgliedern suchen, die dort leben. Verständlich, wenn man schon länger nichts von ihnen gehört hat.
Der Patrouillenmann hielt inne und warf einen Blick in meine Richtung. Ich weiß noch, wie ich mich konzentrieren musste, um durch den Medikamentennebel mitzubekommen, was um mich herum geschah.
Ich habe einen Vorschlag, fuhr der Patrouillenmann fort. Sie kümmern sich um den Verletzten, und wir reservieren Ihnen einen Platz in dem Konvoi in die Stadt. Und bis dahin bekommen Sie die doppelte Lebensmittelration. Die sollte für Sie beide