Fünf Minuten vor Mitternacht. Celina WeithaasЧитать онлайн книгу.
an dem ein Kompromis unmöglich wird.” Seufzend streiche ich mir eine blonde, schimmernde Strähne aus dem makellosen Gesicht. „Wenn ich bitten darf.“ Ich deute zur Tür. Gioseppe zupft seine Ärmel zurecht, ehe er mir ein kühles Lächeln zuwirft.
„Im Übrigen, Ihr Zimmermädchen war tatsächlich eine angenehmere Gesellschaft als Sie, Miss Clark. Hoffentlich werden sich unsere Geschäfte nicht mehr allzu oft kreuzen.“ „Dieser Wunsch beruht auf Gegenseitigkeit.“
Der Mond scheint groß und gelb durch die Fenster meiner Räumlichkeiten. Der Tag war anstrengend und überflüssig. Der Brunch löste sich irgendwann ohne nennenswerte Ergebnisse auf und mein Vater veranlasste, dass Achim pünktlich in Europa landet. Ein Zimmermädchen könne sich ebenso gut um mich kümmern, wie jeder andere auch, argumentierte Vater. Für seine Verhältnisse hat Achim gekämpft, um bei mir bleiben zu dürfen, eine Geste, die mich zutiefst gerührt hat, selbst wenn sie letzten Endes nicht belohnt wurde.
„Darf ich Euch einen Zopf flechten?“, bittet mein Kindermädchen und sieht mich aus großen Augen an, die ebenso langweilig sind wie Gioseppes. Es ist kein Wunder, dass die beiden einander verstanden haben. Plump und einfach gesellt sich gern.
Der Wunsch nach menschlicher Nähe ist zu überwältigend, als dass ich das Angebot der Bediensteten ausschlagen könnte. „Wenn du auf mein Haar achtgibst.“
Das Zimmermädchen strahlt wie ein kleines Kind, während es beginnt, die blonden Strähnen übereinanderzulegen. Zuvor kämmte sie meine sanften Wellen für Minuten. Ich kann ihr die Affinität zu meinem Haar nicht verübeln. Sie selbst hat derart dünne Flusen auf dem Kopf, es muss ein Segen sein mein dichtes, dickes in den Händen halten zu dürfen. „Benötigt Ihr etwas für Eure Wunden?“ Stillschweigen. „Nein. Ich wäre dir allerdings verbunden, wenn du meine Verletzungen nicht in den Mittelpunkt rücken würdest. Solange niemand den Ursprung dieser Schrammen geklärt hat, wird darüber kein Wort verloren.“
Mein Kindermädchen nickt und fährt in seiner Arbeit fort. „Soll ich heute Nacht bei Euch bleiben?“
Damit sie mich die ganze Zeit über anstarrt und darauf wartet, dass etwas Ungewöhnliches geschieht?
„Ich hörte”, sage ich genüsslich, „du hättest dich bei meiner Geburtstagsfeier köstlich mit Gioseppe Riva amüsiert. Hat er mich in irgendeiner Weise erwähnt?“
In meinem Spiegel erkenne ich, wie ihr die Röte in die Wangen steigt und sie hastig die Augen niederschlägt.
„Nein. Er sagte lediglich, er verstände Euch nicht gänzlich.“ Das ist wohl die beschönigte Version davon, dass er ihr gegenüber seine Abscheu in Bezug auf mich zur Geltung brachte.
„Er scheint ein wahrer Gentleman zu sein“, seufzt mein Kindermädchen. „Ich hatte das Gefühl, er könnte mir bis auf den Grund meiner Seele blicken.“
Die einzige Person, die in mir lesen kann, wie in einem offenen Buch, müsste vor wenigen Minuten in London gelandet sein. Ein bitterböses Geschöpf stiehlt sich brennend in mein Herz.
„Er ist verheiratet.“ Der Blick der Angestellten schießt nach oben, ehe sie ihn viel zu schnell niederschlägt. „Das hat er nicht erwähnt.“ „Wäre er ein Gentleman”, erwidere ich kühl, „hätte er über seinen Beziehungsstatus nicht geschwiegen.“ Das Mädchen verfällt in Schweigen. Gut so.
„Bist du fertig?“, frage ich. Das Mädchen schlingt den Haargummi um das Ende des Zopfes und erhebt sich hastig. „Ja, Miss.“ Ich muss sie nicht entlassen, sie entfernt sich selbstständig, noch immer mit brennenden Wangen. Schimmern Tränen in ihren Augen? Wegen dieses Möchtegern-Aktionärs? Schnaubend lege ich mir den Morgenmantel um die Schultern und setze mich auf die Fensterbank meines Schlafzimmers.
Jede Wolke ist verschwunden, Sterne funkeln silbrig neben dem atemberaubenden Mond. Ich bin versucht, mich in seinem Anblick zu verlieren. Wäre Achim hier, er hätte den Arm um meine Schultern gelegt und würde mich küssen. So nah waren wir der Möglichkeit, dass wir eine gesamte, luxuriöse Woche gemeinsam verbringen dürfen. Jetzt sitze ich allein und warte darauf, dass der Tag ein Ende nimmt.
Ich müsste mich über den Neuanlagen der letzten Tage informieren. Der Ordner liegt auf meinem Schminktisch, direkt neben der Haarbürste und einer kleinen Auswahl meines Nagellacks. Es wären nur wenige Schritte dorthin. Stattdessen ziehe ich den seidigen Stoff des Morgenmantels enger um meine Schultern und lehne den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe.
Nie zu vor habe ich Achim so bitterlich vermisst. Ich möchte zu ihm, raus hier. Erneut überkommt mich das überwältigende Bedürfnis, frische Luft zu schnappen. Dieses Mal kämpfe ich es nieder und lasse die Finger über das Glas wandern. Es fühlt sich an, als könnte ich die Sterne berühren und mit ihnen wachsen. Betrachtet Achim sie auch? Sacht schüttle ich über mich selbst den Kopf. Viel eher wird er mit wichtigen Herren um einen Tisch versammelt sitzen, an dem Champagner nippen und Papiere wälzen. Ich sollte an seiner Seite sein. Frustriert schließe ich die Augen und atme tief durch, greife nach der warmen Decke neben mir und fasse in pure Eiseskälte.
Erschrocken fahre ich zusammen. Ist das Schnee? Schnee. Er rieselt vom Himmel, während ich auf offener Straße in meinem schimmernden Pyjama sitze, den dünnen Seidenmantel eng um meine Schultern geschlungen. In der Ferne läutet eine Turmuhr die Nachtruhe ein. Die Eiskristalle beißen in meine nackten Fußsohlen. Keuchend stehe ich auf. Weiße Wölkchen puffen über mir in die Luft. Das kann unmöglich real sein. Bin ich eingeschlafen? Wann hat Gioseppe mir heute Halluzinogene in das Glas getan? Die ganze Zeit über war der Tisch voll besetzt und Gioseppe an dem anderen Ende davon.
In der Ferne ertönt ein Ruf. Alkoholisiert? Zornig? Beinahe fühle ich, wie die gestrige Nacht sich wiederholt. Stolpernd komme ich auf die Beine und wickle mich tiefer in meinen Seidenmantel. Dunkel hängen die Wolken über mir, nur beschienen von dem beißenden Schnee. Eine grölende Meute, die ich noch nicht sehen kann, treibt mich vorwärts, weg von der gepflasterten, zu Teilen vereisten Straße.
Brenn, brenn, brenn. Eyne Hex! Diese furchtbaren, erbärmlichen Schreie und die Brandmale an meinem eigenen Körper. Ist es möglich sich diesen Moment einzubilden? Nie zuvor habe ich gefroren. Wenn ich zu frösteln begann, wurde mir ein Mantel gereicht.
Selbst die gestrige Kälte ist nichts gegen diese Temperaturen. Sie fressen mich auf und treiben mir die Tränen in die Augen. Es ist dermaßen kalt, dass meine Haut sich unter dem rieselnden Schnee aufzulösen scheint. Nie zuvor kam er mir so weiß vor. Nicht eine Nuance Grau oder Braun versteckt sich darin. Trüge ich mehr als nur meinen Schlafanzug, es wäre ein Winterwunderland.
Meine Zehen sind binnen von Sekunden taub und bläulich. Diese Veränderung meines Körpers macht mir Angst.
Fühlt sich so das Erfrieren an? Ich will es nicht erfahren.
Es erfordert mehr Mut, als sich den pikanten Fragen hunderter Journalisten zu stellen, an die zerbrechlich wirkende Tür des erstbesten Hauses neben mir zu klopfen. Das Dach hängt durch und scheint jeden Moment unter den Eismassen ächzend nachgeben zu wollen. Die Fassade wurde wohl vor Jahrzehnten ansatzweise befestigt. Nie zuvor habe ich ein ähnlich erbärmliches, ähnlich winziges Gebäude gesehen. Nicht einmal Stufen führen hin zu der Tür!
Es ist die Angst um mein Leben, die mich voran ins Ungewisse treibt und mich gegen knarzendes Holz klopfen lassen.
Das harsche Geräusch hallt durch die stiebende Kälte und das zweifelsohne bescheidene Zimmer hinter der verschlossenen Tür. Egal was sich dort verbirgt, ich würde alles hinnehmen. Nichts kann schmerzhafter sein als dieses eisige Frösteln, das mich bei lebendigem Körper gefrieren zu lassen scheint.
Das beißende Brennen treibt mir die Tränen in die Augen. Verzweifelt nach Wärme suchend, schlinge ich die Arme um meinen Körper. Der Morgenmantel rutscht mir von den Schultern. Ich bin zu steif, um mich danach zu bücken.
Es muss doch jemand dort wohnen!
Ich würde ihm meine Ohrringe geben, die Kette, von mir aus auch den Ring. Er soll mich nur einlassen. Es ist so kalt.
Nichts anderes hat mehr Platz in meinem