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Brennpunkt Hongkong. Alexander GörlachЧитать онлайн книгу.

Brennpunkt Hongkong - Alexander Görlach


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formulierten darin ihre Antwort auf einen unglaublich einschneidenden historischen Moment, den Untergang der Sowjetunion. Fukuyama sah eine neue Morgenröte anheben, ein demokratisches Zeitalter. Nach dem Ende des Kommunismus habe die Demokratie unter Beweis gestellt, die stärkere Kraft zu sein. Nun würden sich alle Länder Schritt für Schritt für diese Regierungsform entscheiden. Nachdem die alte Blockkonfrontation zerfallen sei, die bis dato die Weltgeschichte geprägt habe, zuletzt durch die Gegenstellung von Freiheit und Kommunismus, sei die Geschichte, die der Mensch nur in systematischen Auseinandersetzungen erfahren könne, zu einem Ende gekommen. Auch Huntington sah einen neuen Äon heraufziehen, den einer multipolaren Welt. Verschiedene Kulturkreise würden nun mit- und gegeneinander um die Vorherrschaft in der neuen Zeit wetteifern. Diese Kulturwelten bestünden jeweils aus einem Anführer und aus einer Vielzahl von Unterstützern. So würde die westliche Kulturwelt, zu der unter anderem Europa, Kanada und Australien gehören, von den USA angeführt.

      In den vergangenen drei Jahrzehnten haben wir uns angewöhnt, aufkommende Konflikte mithilfe einer der beiden Schablonen zu verstehen und zu deuten. Dass die Autoren mit ihren Gedanken nicht unrecht hatten, wird allein dadurch belegt, dass ihre Buchtitel inzwischen zu geflügelten Worten geworden sind, die wir verwenden, ohne dass wir dafür zwingend das betreffende Buch gelesen haben müssen.

      Fukuyama und Huntington legen offen, dass der Systemkonflikt der entscheidende Treiber des Politischen ist. Das mag für manche banal klingen, aber der dieser Behauptung zugrunde liegende Zusammenhang ist es bei weitem nicht: Es geht den Menschen eben nicht nur um »Good Governance«, also darum, gut regiert zu werden. Dieses Streben haben auch Menschen in Nichtdemokratien. In Demokratien ist das Streben mehr, es ist ein Anspruch. Eine gute Regierung wollten auch die Völker der mittelalterlichen Christenheit, die es gelegentlich für sich in Anspruch nahmen, einem gesalbten Haupt die Gefolgschaft zu versagen. Der von Gottes Gnaden eingesetzte König verlor seine Legitimität, wenn er den Pflichten zum Schutze seiner Untertanen nicht gerecht wurde. Good Governance war auch schon in der Welt, lange bevor die Frontstellungen des 20. Jahrhunderts die Geschehnisse der Vergangenheit restlos überlagerten.

      In einem Systemkonflikt geht es um Weltanschauung, um Überzeugung und Glauben, um normative Setzung. Fukuyama und Huntington beschreiben in diesem Sinne – und nebenbei bemerkt in bester Gesellschaft mit Joachim von Fiore, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Karl Marx und Oswald Spengler – eine spekulative Abhandlung der Weltgeschichte. Sie sprechen nicht darüber, wie die Welt ist, sondern wie sie sein sollte. Eine Idealisierung, die aufgrund ihres Aufforderungscharakters große Wirkung auf die Realpolitik gehabt hat. Auf der Seite der Regierten beispielsweise sehen wir, in den vergangenen Jahren verstärkt, dass Bürgerinnen und Bürger bereit sind, für die Idee – manche würden sagen für die Utopie – einer Welt, wie sie sein sollte, auch Nachteile in Kauf zu nehmen, materielle und ideelle. So wurde vor dem Brexit immer wieder festgestellt, dass Befragte in Großbritannien den Ausstieg aus der Europäischen Union befürworteten, auch wenn es für sie persönlich einen ökonomischen Nachteil bedeuten würde. Das (falsche) Versprechen der Brexiteers – ein zu neuer Stärke gelangtes Großbritannien, das sich im Systemwettstreit mit der EU behaupten und zu neuer globaler Relevanz aufsteigen würde – elektrisierte die Menschen mehr als die laue Routine und abgeklärte Sprache eines europäischen Apparates, der durchaus in der Lage ist, Good Governance für die 550 Millionen Europäerinnen und Europäer abzugeben.

      Dass dieser Systemkonflikt Mutter und Haupt aller politischen Klassifizierungen ist, zeigt die neue Frontstellung zwischen »liberaler« und »illiberaler« Demokratie. Ich werde gleich darauf zu sprechen kommen, dass es sich hierbei nicht um gleichberechtigte Antagonisten eines Gegensatzes handelt, sondern dass die Bezeichnung »illiberal« vielmehr bewusst von den Anhängern des Illiberalen eingesetzt wird. Damit führen sie ihre undemokratische Vorstellung als eine gleichberechtigte Variante der Demokratie ein, was sie nicht ist. »Illiberal« soll einen Systemkonflikt der Marke »Wir gegen die« behaupten, der die Menschen fesselt und ihnen gleichzeitig Wert und Relevanz zuspricht. Man muss also konstatieren, dass Samuel Huntington eher recht hatte, weil die Eliminierung des Systemkonflikts, wie sie von Francis Fukuyama zugunsten einer Welt, die nur noch einen Zustand kennt, nämlich den der Demokratie, prophezeit wurde, meines Erachtens nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Gleichzeitig hatte Fukuyama aber recht, wenn er vermutete, dass die Demokratie sich nach dem Niedergang des Sowjetimperiums im Aufwind befinden würde. Und dass es sich so viele ihrer Widersacher bis auf den heutigen Tag zur Lebensaufgabe machen, sie zu bezwingen, belegt einmal mehr ihre Macht. Viel Feind’, viel Ehr’!

      Die Welt ist wieder zweigeteilt: in Demokratien und in Nichtdemokratien. Wir erleben heute exakt eine solche Entgegensetzung wie die, von der Fukuyama glaubte, dass sie überwunden würde. Huntington allerdings liegt falsch mit seiner Idee von sieben relevanten Kulturkreisen, die miteinander im Wettstreit liegen sollten. Das entspricht nicht der Welt, in der wir jeden Tag aufwachen. Sicher, es gibt Konflikte zwischen den USA und China, zwischen der EU und der Türkei, zwischen Japan und Korea. Aber all diese Spannungen lassen sich nur in dem größeren Kontext analysieren und verstehen, der die involvierten Parteien entweder dem Lager der Demokratie oder dem der Nichtdemokratie zuordnet.

      Die Nichtdemokraten möchten es als einen lapidaren Unterschied erscheinen lassen, wenn sie sich mit dem Etikett »illiberal« versehen. Dabei verbergen sich unter dem neuen Begriff alte Bekannte, denen man lieber nicht begegnen möchte: die Diktatur, die Despotie, die Autokratie. Ganz anders verhält es sich im Lager der liberalen Demokratie: Man kann sich das attributive Adjektiv im Grunde sparen, denn jede Demokratie ist heute liberal. Aber wir sind in der Auseinandersetzung mit den Illiberalen mittlerweile gezwungen, das Adjektiv zu gebrauchen, um deutlich zu machen, auf welcher Seite wir stehen.

      »Liberal« soll hier jene Ausprägung der Demokratie bezeichnen, in der wir heute leben. Was heißt das? Man kann den gesamten demokratischen Weg so verstehen: als Postulat einer Beteiligung aller am Politischen, das in der Theorie zwar schon in der Antike aufgestellt, aber in der Praxis bis in die jüngere Vergangenheit nicht eingelöst wurde. So errangen Frauen erst vor einem Jahrhundert das Wahlrecht. Chinesen wurde dieses Recht noch viel länger vorenthalten, genauso Afroamerikanern und anderen Minderheiten. Liberal ist also zum »neuen Normal« geworden und bezeichnet einen politischen Zustand, den die meisten von uns nicht mehr aufgeben wollen würden. Illiberal bedeutet im Umkehrschluss ein Modell, das seinen Anhängern beispielsweise verspricht, Frauen das Wahlrecht zu entziehen.

      Als ein weiteres Kennzeichen des Illiberalen machen seine Propagandisten das Mehrheitsprinzip aus. Eine Demokratie sei nämlich nur dann eine, sagen sie, wenn die Mehrheit über die Minderheit herrscht. Wenn 95 Prozent der Bevölkerung heterosexuell sind, dann haben sich, nach ihrer Logik, die fünf Prozent Homosexuellen gefälligst hintanzustellen. Für diese Minderheit wird keine Politik gemacht, weil Politik nur etwas für eine Mehrheit sei. Am Ende meinen sie mit illiberal eine homogene Gesellschaft, die sich durch gleiche »Rasse«, Sprache, Religion, Kultur, Sitte und Moral auszeichnen soll. Eine solche Gesellschaft gibt es nicht. Schon in der vordemokratischen Welt waren die Imperien ein Vielvölkergemisch, in dem unterschiedlich gesprochen und zu verschiedenen Göttern gebetet wurde. Und ob Habsburger oder Osmanen: Beide versuchten den Minderheiten in ihrem Reich eine gewisse Autonomie einzuräumen, die sich mit der Herrschaftsausübung der Zentralgewalt vertrug.

      Eine konforme Identität, ein Wir, besteht dann am besten, wenn es die Anderen gibt, an denen sie sich abarbeiten kann (»Mia san mia!«). Je abstrakter diese Anderen sind, desto besser lassen sie sich im Systemkonflikt instrumentalisieren. Illiberale der Gegenwart haben unter anderem transsexuelle Menschen als ihre Lieblings-Anderen ausgemacht. Die Menschheit, sagen sie, bestehe aus Männern und Frauen. Sie seien die beiden Geschlechter und bewegten sich, die Disposition der Geschlechtsmerkmale belege dies, aufeinander zu. Die behauptete Binarität wird unter Umständen noch dem lieben Gott in die Schuhe geschoben, der die Welt so geschaffen habe. Sensibilität gegenüber Menschen, die sich nicht in dieses simple Weltbild einordnen lassen? Fehlanzeige.

      Illiberale sind Autokraten. Ein Autokrat ist, definitionsgemäß, einer, der ohne Beschränkung Politik betreiben kann. Beschränkung meint hier, dass der Autokrat selbst der Gesetzgeber ist und weder von Gesetzen noch von einer Verfassung in seiner Herrschaftsausübung in die Schranken gewiesen werden kann. »Die Stände, das bin ich«, soll der Sonnenkönig Ludwig


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