Eine Liebe - ein ganzes Leben lang: Roman um ein Nachkriegs-Schicksal. Glenn StirlingЧитать онлайн книгу.
des Bankhauses Finkenstedt hatte seine Klinik aufs Ärgste bedroht. Schließlich war Udo von Finkenstedt der Geldgeber und letztlich auch der Eigentümer der TANNENHOFKLINIK.
Nachdem die Bank zusammengebrochen war, hatte man Professor Winter mitgeteilt, dass auch die TANNENHOFKLINIK, von ihm medizinisch geleitet, in die Konkursmasse fiel.
Seit diesem Morgen aber wusste Professor Winter, dass die Zukunft der Klinik, und damit auch seine eigene, eine unerwartet günstige Wendung genommen hatte, eine Wendung übrigens, mit der er bis zum heutigen Morgen nicht rechnen konnte. Und diese Wendung war von Übersee gekommen.
Als er zum Mittagessen von unten aus der Klinik hinauf zur Wohnung, die sich im obersten Stockwerk befand, kam, nahm er seine Frau in die Arme, küsste sie so leidenschaftlich, wie er es schon seit Tagen nicht mehr getan hatte.
Halb überrascht, halb davon bezaubert fragte sie: „Florian, was ist los mit dir? Du bist so stürmisch. Wie verwandelt bist du.“
Sie hatte sein kummervolles Wesen in der letzten Zeit mit Sorge betrachtet. „Geht es dir gut?“, fragte er und sah seine charmante blonde Frau lächelnd an. Sie war jetzt Anfang vierzig. Sie sah sehr gut aus. Der Schicksalsschlag, Brustkrebs zu haben, war überwunden. Zu neunundneunzig Prozent war die Sache geheilt und damit bereinigt. Sie war auch darüber hinweggekommen, dass man ihr die Brust amputiert hatte. Und inzwischen war die plastische Operation gelungen. Man musste schon sehr genau hinsehen, um etwas von der kosmetisch-plastischen Operation zu sehen. „Sind die Kinder da?“, fragte er.
„Nein. Kommen heute Abend nicht. Du weißt doch, dass Stefan im Schullandheim ist.“
„Nicht die Bohne weiß ich“, meinte er verblüfft. „Hast du mir das gesagt?“
Sie lächelte nachsichtig. „Natürlich, Schatz, ich habe es dir schon vor zwei Tagen gesagt. Und weit davor schon einmal. Deshalb bin ich schon zu dieser Elternversammlung gegangen.“
Er zuckte nur die Schultern. „Ist mir glatt durchgegangen. Und Andrea?“
„Sie ist bei Beate. Die ist ja wie verrückt auf Andrea. Na ja, sie hat sich Kinder so sehr gewünscht und bekommt keine. Dann äußert sich so etwas eben auf diese Weise.“
„Sie ist da gut aufgehoben, die Kleine. Dann essen wir also alleine.“
„Oh ja, und ich habe auch etwas Besonderes gemacht. Ich hoffe, es schmeckt dir. Aber du wirkst so aufgekratzt. Was ist passiert?“
„Später, nach dem Essen.“
Es kostete ihn selbst einige Beherrschung, mit seiner Frau, mit der er noch alles besprach, nicht während des Essens darüber zu reden. Aber dann, als sie gegessen hatten und er sich wohlig und satt zurücklehnte, zog er den Brief aus seiner Jackentasche.
„Du weißt“, sagte er, „welche Probleme die Pleite der Finkenstedts für uns bedeutet hat.“
„Natürlich weiß ich das“, sagte Helga. Sie wurde sehr ernst. „Das hat dich doch die ganze Zeit beschäftigt. Aber mich auch. Das kannst du mir glauben.“
„Helga, du erinnerst dich sicher noch an Melanie Doyle, die Tochter von Renate und Fred Doyle?“, fragte Florian Winter nun.
„Ja, ich kann mich an die Doyles erinnern. Das letzte Mal waren sie ... lass mal überlegen, das war ja noch in Bonn, als sie uns besucht haben.“
„Eben. Das ist noch in Bonn gewesen. Allerdings war Melanie auch schon hier. Sie ist doch damals mit ihrem Mann gekommen. Vor vier Jahren ist das gewesen. Erinnerst du dich nicht?“ „Ach ja, stimmt. Es ist im Sommer gewesen. Wir wollten noch, dass sie bei uns schlafen, die beiden. Aber das haben sie abgelehnt.“
„Sie haben sich irgendwie geniert und wollten unbeaufsichtigt sein. Vielleicht hatten sie auch Angst“, meinte Florian Winter, „dass ich irgendwas Melanies Mutter erzähle.“
„Weißt du“, meinte Helga, „ich weiß zwar, dass du die Doyles kennst. Renate Doyle ist doch Deutsche, nicht wahr? Sie ist auch Ärztin.“
„Sie ist Ärztin, sie ist Deutsche, sie hat ein ganz merkwürdiges Schicksal hinter sich. Ein nicht gerade selbstverständliches und übliches Schicksal“, fügte Winter hinzu. „Ich habe sie damals kennengelernt, als sie während meines Aufenthaltes in Boston sich besonders um die deutschen Gäste gekümmert hat. Du erinnerst dich sicherlich, dass ich dir mal von diesem großen Kongress erzählt habe. Damals war ich noch Oberarzt in Bonn bei Professor Frentzel. Das war ganz am Anfang meiner Oberarztzeit. Und dieser Gynäkologenkongress war international. Zwei deutsche Kollegen und ich haben in einem Haus der Doyles gewohnt, und Renate Doyle war es, die sich um uns gekümmert hat. Durch einen Zufall. Ihr Chauffeur, der sie mit dem Wagen abholen sollte, war in einem Verkehrsstau stecken geblieben, und ich fuhr Renate Doyle nach Hause. So kamen wir beide zusammen, hatten ein langes Gespräch. Und ...“ Winter lächelte versonnen, „ich bin dann in genau denselben Stau geraten, in dem auch der Chauffeur gesteckt hat. Anschließend, als wir bei den Doyles ankamen, hat sie mich noch auf einen Drink eingeladen, und ich habe ihren Mann kennengelernt, Fred Doyle. Ich erfuhr, dass er einmal im Rollstuhl gesessen hatte, war partiell querschnittsgelähmt gewesen. Und in dieser Nacht saßen wir zu dritt zusammen. Sie nahm mich so herzlich auf in ihrem hochherrschaftlichen Hause. Und dann hörte ich die Geschichte der beiden. Das ist wie Romeo und Julia. Nur dass sie noch zusammengefunden haben. Eine atemberaubende Geschichte, die gegen Ende des letzten Krieges begann. Sie ist nicht immer schön gewesen, diese Geschichte. Nicht immer so, wie man sich das bei einer Liebesgeschichte wünscht. Aber Liebe war sehr viel im Spiel.“
„Erzähl mir davon! Bitte, Florian, ich will wissen, wie das mit Renate Doyle war!“
„Als es begann“, sagte Professor Florian Winter zu seiner Frau, „da war Renate keine Ärztin. Sie war Medizinstudentin gewesen, und man hatte sie in den letzten Kriegsjahren dienstverpflichtet, als Krankenschwester zu arbeiten. Und sie war Stationsschwester in einem Lazarett. Es war gegen Ende des Krieges. Die Verhältnisse in Deutschland waren schlimm, furchtbar schlimm geworden. Für die Menschen aber wurde alles noch schlimmer.
In dieser Zeit beginnt die Geschichte von Renate Westfal und Fred Doyle. Eine Liebesgeschichte, wie sie wirklich nicht alle Tage passiert ...“
2
Das Licht der Deckenlampe flackerte. Mit rhythmischem Gleichmaß tickte der große Messingwecker auf. Aus dem kleinen Rundfunkgerät tönte Marschmusik.
Renate erhob sich und drehte das Radio ab. Müde rieb sie sich die Augen, trank den Rest des Kaffees, der noch in der Tasse war, und trat vor den Spiegel. Ein junges Gesicht sah sie an. Abgespanntheit, Erschöpfung zeichneten dieses Gesicht. Unter den blauen Augen lagen tiefe Schatten. Die Wangen waren blass. Das blonde Haar entbehrte den Friseur, und das machte selbst die kleine weiße Haube nicht wett.
Sie band sich die weiße Schürze um, strich die Falten glatt und warf einen Blick auf die Uhr. Zehn Minuten vor Mitternacht. Gleich mussten die Mädels von der Station kommen, und für Renate begann der Dienst. Die Nacht war zum Tag geworden.
Nachdenklich ging Renate zu ihrem Bett, legte die Decke zurecht und lächelte, als sie auf Lisbeth Zenkers Bett den kleinen Teddybären entdeckte. Lisbeth liebte es, dieses kleine braune Plüschknäuel. Es war ihr ein Trost und ein Halt in diesem Wirrwarr aufregender Tage.
Ich