Romantic Thriller Sommer 2020: 9 Romane um Liebe und Geheimnis. Alfred BekkerЧитать онлайн книгу.
„Morgen früh, meine Herren, nicht heute Nacht. Und jetzt würde ich gerne noch etwas schlafen.“ Ich warf mich zurück in die Kissen und zog mir die Decke über den Kopf. Ein letztes Mal spürte ich die Stimme von Sir Lawrence.
„Schlafen Sie wohl, Mylady, mögen Ihre Träume sanft und zärtlich sein.“
7
„Du, Dad, sag mal, wie war das eigentlich mit dem Turm, der früher hierher gehörte?“, fragte ich am nächsten Morgen bei einem gemütlichen Frühstück.
Mein Vater schaute auf und musterte mich über den Rand seiner Lesebrille.
„Wie meinst du das, Jessica? Der Turm ist lange zerstört und vergessen. Wie kommst du eigentlich darauf, es hat dich doch noch nie besonders interessiert, was sich in der Geschichte von Rosemont Hall abgespielt hat?“
Jetzt hieß es flunkern, denn noch immer war ich nicht bereit, meinem Vater die Wahrheit zu sagen. Das schlechte Gewissen bohrte in mir, aber das musste halt eben warten.
„Ach, weißt du, ich bin neulich über ein paar alte Ansichten von Herrenhäusern gestolpert und habe mich gefragt, wie es hier auf Rosemont Hall wohl ausgesehen hat. Schließlich ist das Gebäude schon sehr alt, und der Turm gehörte eigentlich dazu.“
„Auf welche Ideen du manchmal kommst“, wunderte sich mein Vater, stand dann aber auf und holte ein altes Buch aus der Bibliothek.
„Hier hast du einige Kupferstiche und Zeichnungen, die das Gebäude wiedergeben. Die Maße sind sogar relativ genau. Es musste schon recht imposant ausgesehen haben.“ Er drückte mir das schwere Buch in die Hand, und ich strahlte ihn an.
„Danke Dad.“ Ich verzog mich mit dem Buch in mein Zimmer und studierte die Bilder genau. Dann nahm ich den übersetzten Text und begann zu überlegen.
„Bei Sonnenuntergang, wenn der Schatten des Turmes zweimal so lang ist, gehe zehn Schritte nach Nordwesten. Dort wirst du den Schlüssel finden, der das Labyrinth unter der Kapelle öffnet. Hüte dich vor den Hunden, die fliegen und beißen.“ Beim ersten Lesen des Textes hatte ich noch gelacht. Eine so verrückte und geschraubte Sprache – aber diese Worte waren vor langer Zeit geschrieben geworden, man hatte damals noch andere Wendungen benutzt. Ich fing an zu rechnen und stieß auf ein Problem, das der Schreiber der Zeilen offenbar außer Acht gelassen hatte. Welche Richtung meinte er? Ich kam in diesem Augenblick nicht darauf, dass es nur eine Richtung geben konnte, nämlich dass der Schatten grundsätzlich bei Sonnenuntergang nach Osten zeigen musste, weil die Strahlen der Sonne aus Westen kamen. Das bewies mir, dass ich keine Ahnung von der Schatzsuche oder von topographischen Einzelheiten hatte.
Ich wusste jedenfalls in diesem Augenblick nicht weiter. Kurzentschlossen griff ich zum Telefon und rief Gordon zuhause an. Er hatte mir seine Privatnummer gegeben, für den Fall, dass ich noch Fragen hatte – oder dafür, dass ich von Sehnsucht erfüllt...
Naja, Sehnsucht konnte man das bestimmt nicht nennen, aber ich hatte festgestellt, dass ich mich in seiner Gegenwart wohl fühlte, gerne mit ihm zusammen lachte und nichts dagegen hatte, dass er mir auf eine besonders charmante Weise den Hof machte.
McBride meldete sich nach dem zweiten Klingeln, und ich erklärte ihm mein Problem. Ein amüsiertes Lachen kam herüber.
„Haben Sie in Geographie gefehlt oder geschlafen, Lady Jessica?“, fragte er spöttisch, und im gleichen Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Wie peinlich!
„Oh, ich glaube, da habe ich Sie ganz umsonst am Wochenende gestört“, bemerkte ich verlegen. „Ich weiß gar nicht, wie ich das wieder gut machen soll. Würde es vielleicht reichen, wenn ich Sie zum Essen hierher einlade?“
Für einen Moment herrschte verblüffte Stille, dann kam die fröhliche Antwort. „Ich würde das für eine mehr als angemessene Wiedergutmachung halten, Mylady. Wenn es Ihnen keine größeren Umstände bereitet...?“
„Sicher nicht. Ich gebe nur der Köchin Bescheid und bereite meinen Vater darauf vor, dass Besuch anwesend ist.“
Bevor er noch etwas sagen konnte, hatte ich schon aufgelegt und beschäftigte mich wieder mit den Zeichnungen des Turmes. Unwillkürlich schaute ich aus dem Fenster. Dort war Osten, dort befand sich der alte Friedhof.
Du lieber Himmel, wenn es nicht um die Tradition gegangen wäre, hätte mein Vater das alte Gräberfeld längst einebnen lassen. Aber irgendwie gehörte die Parkanlage, in der sich zwischen vielen alten Bäumen teilweise verwitterte Grabsteine befanden, zu Rosemont Hall wie die Ritterrüstungen in der Eingangshalle. Dabei waren die furchtbare Staubfänger. Aber das sagte man besser nicht laut, wenn Besucher anwesend waren. Die meisten glaubten, dass Traditionen untrennbar mit antiken Überbleibseln verbunden waren. Vielleicht hatten sie ja sogar recht. Aber Staubfänger waren die Ritterrüstungen dennoch, und gefährlich außerdem. Wem jemals so ein Ding vor die Füße gefallen war, dessen Einzelteile schwer und scharfkantig Verletzungen hervorrufen konnten, würde vielleicht anders darüber denken.
Auf jeden Fall besaßen wir noch reichlich von der Tradition mit allem Zubehör, und irgendwie freute ich mich, welch ein verblüfftes Gesicht Gordon McBride wohl machen würde, wenn er mit all diesen Traditionen konfrontiert wurde.
Mein Vater reagierte einigermaßen erstaunt, als ich ihm erklärte, dass wir zum Essen Besuch haben würden. Doch er war erfreut. Seiner Meinung nach hätte ich sogar längst verheiratet sein müssen, mit wem auch immer. Er stellte keine Fragen, wer nun eigentlich der Besucher sein würde, schließlich konnte er sich selbst ein Bild von dem Mann machen.
8
„Es musste sehr schön sein, als Kind soviel Platz zur Verfügung zu haben“, stellte Gordon fest, als er mich nach dem Essen auf einem Spaziergang nach draußen begleitete.
Das Essen war hervorragend verlaufen. Unsere Köchin hatte sich selbst übertroffen, Henson hatte den Gast wie Ihre Majestät persönlich bedient, und mein Vater hatte es sogar unterlassen, indiskrete Fragen zu stellen. Allerdings runzelte er die Stirn, als er vom Beruf des jungen Mannes hörte, und warf mir einen fragenden Blick zu.
Früher oder später würde ich Farbe bekennen müssen und meinem Vater erklären, was ich hier eigentlich trieb. Aber noch nicht jetzt. Mein inneres Gefühl riet mir, niemanden sonst einzuweihen, um nicht eine unbekannte Gefahr heraufzubeschwören.
So hatte ich Gordon nach dem Essen gebeten mich auf einem Spaziergang zu begleiten, der uns unweigerlich auf den alten Friedhof führte.
Bei der Frage von Gordon hob ich verwundert den Kopf.
„Froh? Nein,