Nachtigallensteine. Petra HofmannЧитать онлайн книгу.
Postbank,
mir ist leider ein entsetzlicher Fehler passiert. Das heißt, eigentlich sind es sechs entsetzliche Fehler.
Ich muss dazu etwas ausholen. Das war nämlich so:
Gestern war das Wetter unheimlich sonnig und warm und meine Kinder wollten ins Schwimmbad. Und weil ich dachte, dass es bei der Hitze nicht schaden könne, selbst mal kurz ins kühle Nass zu springen, bin ich auch mal kurz im großen Becken untergetaucht. Dummerweise hatte ich vergessen, dass ich eine Chlorallergie habe, und als ich wieder auftauchte, haben meinen Augen schlimm gebrannt und waren ganz rot. Ich habe meine Kinder dann ihrem Schicksal übergeben und sie allein im Schwimmbad zurückgelassen – sie scheinen mir mit sechzehn und achtzehn Jahren auch alt genug zu sein – und bin allein wieder nach Hause gefahren. Halb blind.
Daheim habe ich mir als erstes einen Kühl-Akku auf die Augen gelegt. Zum Glück war noch einer im Eisfach. Und ein Eis hab ich mir auch gleich genommen. Das bot sich an, so vor der Gefrier-truhe. Und während ich da fast ein bisschen entspannt habe, ist mir eingefallen, dass ich ja ganz dringend noch eine Überweisung tätigen muss.
Mit dem Kühl-Akku auf den Augen und dem Eis in der linken Hand habe ich dann versucht, mich auf der Homepage anzumelden. Mein Eis war übrigens ein Vanilleeis. Und das fand meine Katze Minka sehr interessant, sodass sie mal kosten wollte. So kam es, dass sie auf die Tastatur sprang und vorzeitig die Entertaste drückte.
Die anderen fünf Fehler waren so ähnlich. Ich erspare Ihnen lieber die Details.
Könnten Sie bitte alles Nötige dafür tun, dass mein Online-Zugang wieder freigeschaltet wird?
Herzliche Grüße senden Ihnen Petra und Minka!
So – und während ich mit der Katze auf die Freischaltung warte, hole ich mir noch ein Eis aus dem Eisfach.
Küchenhilfe
Da ich nun begonnen habe, sehr viel mehr zu arbeiten, muss eine Lösung für den Haushalt her. Die Revolution soll in der Küche beginnen. Wir testen den Thermowix. „Der Küchenprofi an Ihrer Seite“, wird das Gerät in einem der bunten Prospekte beworben, die samstags immer unerwünschterweise im Zeitungsrohr liegen. Die blaue Papiermülltonne ist randvoll mit Werbeblättchen dieser Art.
Diese Küchenmaschine kann angeblich alles. Oben tut man sämtliche Zutaten im rohen Zustand hinein und unten soll es fix und fertig gekocht wieder rauskommen. Mit Zeiteinstellung. Also frühmorgens kommt alles rein, und zum Mittagessen, wenn alle nach Hause kommen, ist das Gericht fertig. Und Wäsche waschen kann die Maschine auch.
Wir probieren es aus. Das Ergebnis ist allerdings befremdlich: Grüner, gelber und brauner Brei liegen nebeneinander auf dem Teller. Ich muss an Babynahrung denken. Oder püriertes Katzenfutter (bei dem Gedanken werde ich direkt wieder müde). Oder an das Essen in Krankenhäusern. Zähne braucht man dazu nicht. Bei längerfristigem Einsatz scheinen die sogar eher hinderlich zu sein. Es reicht vollkommen, den Brei einfach zu schlucken. Ich schlage deshalb vor, sie alle entfernen zu lassen. Wozu ist man mit einem Zahnarzt liiert? Die Kinder halten sich die Hände vor den Mund.
„Was war denn noch mal das Braune?“, fragt jemand in die Runde. Gute Frage. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, oben etwas Braunes reingetan zu haben. „Schlehenkompott vielleicht?“, rätselt der nächste. Daran würde ich mich erinnern. Ich glaube, ich habe noch nie eine Schlehe in den Händen gehalten. Was auch immer das genau ist. „Pflaumenmus vielleicht?“, geht es weiter. Nee – Pflaumen gibt es doch erst wieder im Herbst. Wir haben noch nicht mal April.
„Es schmeckt ein bisschen nach Fleisch“, fügt die Kleinste hinzu. Mein mittleres, veganes Kind spuckt den Matsch in hohem Bogen aus. Ich versichere ihr, dass es auf keinen Fall Fleisch war, was oben reinkam. Auch kein Fisch. Sie schaut auf die Küchenmaschine und sucht nach Hinweisen. Das Essen stresst irgendwie.
„Vielleicht Rotkohl?“, mutmaßt der Nächste. Dann wäre es aber schon ein wenig violett und weniger braun, gebe ich zu bedenken. Brauner Matsch – was könnte das nur sein? Holz vielleicht? Avocado-Kerne? Schokolade? Gekochte Bananen? Letzteres würde man vermutlich herausschmecken.
Pilze könnten es sein. Vielleicht sollte es eine Pilzsoße werden, aber auch an Pilze kann ich mich so gar nicht erinnern. „Brot – könnte es Brot sein?“ Wer kocht denn Brot? Auf so eine Idee würde nicht mal ich kommen.
„Vielleicht irgendwas Altes, Vergammeltes und schon mal Gekochtes?“, wirft meine Große dazwischen. Das ist jetzt natürlich schon eher denkbar. Auf so eine Idee könnte ich schon mal kommen. Vielleicht habe ich die Küchenabfälle versehentlich in die Küchenmaschine getan statt auf den Komposthaufen?
Die Haustür wird aufgeschlossen. Bob kommt nach Hause, schmeißt Schuhe und Jacke von sich und ist auf dem Weg zum Badezimmer, um sich die Hände zu waschen. „Ach, heute Morgen ist mir ein kleines Missgeschick mit dem Thermowix passiert!“, ruft er uns im Vorbeigehen zu. Die Hundefutterdose sei ihm beim Öffnen aus den Händen geglitten und der Inhalt in die Küchenmaschine geraten. Und leider sei auch so überhaupt keine Zeit mehr gewesen, es wieder zu entfernen. Wir sollten dies bei der Benutzung doch beachten und nach Möglichkeit das Wixgerät vorher noch reinigen.
Jetzt spucken alle in hohem Bogen. Zum Glück habe ich nicht gekaut.
Mama
An manchen Tagen ist „Mama“ ein nur schwer erträglicher Fachbegriff für eine in der Regel weibliche Person, die in ständiger Rufbereitschaft steht – und zwar rund um die Uhr.
Diese Person hätte jetzt so gar nichts dagegen, wenn man das Endlos-Mama durch Bezeichnungen wie „Papa“, „Oma“, „Opa“ oder irgendjemand anderen für eine zeitlich begrenzte Dauer von, sagen wir mal, etwa zwei Stunden bis ungefähr vierzehn Tagen ersetzen würde. Vor allem, weil die weibliche Person – insbesondere diese weibliche Person – ganz dringend mal Yoga machen müsste oder in die Sauna gehen müsste oder unbedingt mit der liebsten Freundin einen Kaffee trinken gehen müsste. Aufs Klo müsste sie auch mal. Und vor allem ans Meer.
„Mama, wie kann man in den Organspendeausweis eintragen, dass ich nur an Veganer Organe abgeben möchte?“ „Mama, haben Marienkäfer auch ihre Tage?“ „Mama, was passiert eigentlich nach dem Tod – also so ganz genau?“ „Mama, wie kann ich rausfinden, welche Farbe Tims Hose hat, wenn ich weiß, wie viele Äpfel er besitzt?“ Was? „Und was gibt‘s heute zum Mittagessen?“
„Mama???“ Mama hat Ohrstöpsel gefunden, die sie gerade benutzt. Stille. Außer den eigenen Darmgeräuschen ist nichts zu hören. Das gefällt mir so gut, dass ich sie einfach drin lasse. Den ganzen Tag. Damit ist man so gut wie unsichtbar. Man sieht zwar, wie sich die Lippen und Augenbrauen der anderen vehement bewegen, aber ich fühle mich so gar nicht angesprochen. Der eigene Puls erscheint einem fast wie Meeresrauschen.
Ich finde die Idee mit den Stöpseln so grandios, dass ich sie auch gleich allen meinen Patienten anbiete. Mehr braucht es nicht zur Heilung. Sie können meinen Ausführungen gerade nicht folgen. Das erkenne ich an der Augenbrauenstellung. Durchschnittlich betrachtet wird mehr die linke Augenbraue hochgezogen, während sich die rechte nach unten bewegt. Bei Linkshändern scheint die Bewegung umgekehrt zu erfolgen. Der Mund bleibt währenddessen leicht geöffnet. Das sieht zum Teil so lustig aus, dass ich überlege, ob ich nicht ein Foto von den Gesichtern machen soll. Ich lasse die Kamera aber sofort wieder sinken, als ich feststelle, dass sich die linken Augenbrauen jetzt ebenfalls nach unten bewegen. Anscheinend finde nur ich das amüsant.
Die Ohrstöpsel bieten auch die optimale Unterstützung bei der anstehenden Party am Wochenende. Meine Große wird achtzehn Jahre alt und eine wilde Party will vorbereitet werden. Mit geschützten Ohren fahren wir zum Discounter, um alles einzukaufen, was am Samstag aufgetischt werden soll.
Mein Kind rennt zwischen den Regalen hin und her und stellt mir unaufhörlich Fragen. Da keine Antwort kommt – ich kann sie ja nicht hören – zieht sie mir irgendwann beide Stöpsel aus den Ohren, holt tief Luft, um alles bereits Gesagte