Diese schrecklich schönen Jahre. Susanne FrohlichЧитать онлайн книгу.
genug ist, um einem nicht lebenslang ein schlechtes Gewissen zu bereiten. Und auch das kommt noch obendrauf auf all das Elend: dass wir in unseren alten Eltern wie in einer Glaskugel unsere gar nicht mehr so ferne Zukunft sehen.
Was tun, wenn Vater oder Mutter zum Pflegefall wird?
Sich so viel Hilfe suchen, wie man bekommen kann. Hartnäckig auch bei den Geschwistern (vor allem den Brüdern) Unterstützung einfordern.
Alles, was Ärzte, Pflegedienste, Kranken- und Pflegekasse oder Pflegeheime entscheiden, was sie ablehnen oder wovon sie behaupten, es so und nicht anders tun zu müssen, hinterfragen und gründlich prüfen. Fall nötig auch mit juristischer Hilfe. Keine Angst vor Autoritäten. Selbst wenn sie einen weißen Kittel tragen. Die Annahme, dass das mit Fehlerfreiheit einhergeht, könnte fatal bis tödlich sein.
Jedem erzählen, in welcher Situation man sich befindet. So sammelt man wertvolle Informationen.
Egal, wie eng der Zeitplan ist – unbedingt für Ausgleich sorgen: Mindestens zwei Mal die Woche joggen, spazierengehen, Yoga oder Ähnliches. Regelmäßig kulturelle Veranstaltungen besuchen und Freunde treffen.
Sich klarmachen: Dass Eltern sterben, lässt sich nicht verhindern. Aber man kann sehr viel dafür tun, noch ein paar schöne gemeinsame Erfahrungen zu sammeln. Sogar mit jemandem, der voll bettlägerig ist.
Die Abrechnung
Es gibt noch eine weitere typische Eltern-Kind-Krise in den mittleren Jahren: Wenn kurz vor Schluss noch einmal abgerechnet wird. All die unverarbeiteten Verluste und Kränkungen der Kindheit, mit denen manche einfach nicht abschließen können. Keine Seltenheit. Und längst nicht bloß in Familien, die ausreichend Stoff für einen weiteren Charles-Dickens-Roman abgeben würden.
Allein in meinem erweiterten Bekanntenkreis gibt es gleich mehrere Fälle, in denen erwachsene Frauen ihren Vater oder ihre Mutter oder gleich beide kurz vor dem Ende noch einmal zur Rechenschaft ziehen und reinen Tisch machen wollen. Für vermeintliche Lieblosigkeit, mangelnde Unterstützung, für übergroßen Ehrgeiz, dafür, dass sie einem den Bruder oder die Schwester angeblich vorgezogen haben. Vieles mag wirklich berechtigt sein. Und ich finde es durchaus legitim, einmal ein paar Dinge geradezurücken.
So wie Michaela. Die 56-jährige Industriekauffrau ist in ihrer Kindheit über lange Strecken bei ihrer Großmutter aufgewachsen. „Meine Mutter war sehr kränklich. Manchmal war sie ganze Monate weg. In Krankenhäusern oder irgendwo in Reha. Jedesmal wurde ich dann bei meiner Oma geparkt. Das war ein richtig böser Drachen. Es gab oft Ohrfeigen, Hausarrest und wüste Beschimpfungen. Einmal bin ich eine halbe Stunde zu spät nach Hause gekommen, weil ich im Eifer des Spielens die Kirchturmglocke überhört hatte, da hat sie mich angeschrien, ich sei eine ‚Hure‘ und eine ‚Schlampe‘. Ich war damals erst acht Jahre alt.“ Michaela hat es ihren Eltern nicht übel genommen, sie so oft bei der Großmutter untergebracht zu haben. „Sie hatten ja keine Alternative und sie wussten auch nicht, wie Oma zu mir war. Oder besser: Sie wollten es lieber nicht wissen. Ich mache ihnen deshalb keinen Vorwurf. Ich will nur, dass auch meine Version der Geschichte zu ihrer Berechtigung kommt und nicht immer alle tun, als wäre das toll gewesen, bei Oma zu sein.“
Klar hat man einen Anspruch auf die Würdigung der eigenen Erfahrungen. Manchmal möchte man aber auch sagen: „Das fällt dir aber früh ein!“ Und: „Irgendwann ist man zu alt für eine unglückliche Kindheit.“ Zum Beispiel zu Sylvia, die mit immerhin 49 Jahren „endlich“ mit ihren Eltern abrechnen will. Ich kenne die beiden und stelle mir vor, wie sich Erna, 84, und Horst, 89, – bereits reichlich tatterig und ohnehin voller Angst vor einer sie zunehmend befremdenden Welt – nun mit einer Anklageschrift auseinandersetzen sollen, als stünden sie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte: „Nie wurde ich gelobt.“ Oder: „Nicht ein einziges Mal wart ihr beim Elternabend.“ Oder: „Immer habt ihr mir meinen Bruder vorgezogen. Er durfte aufs Gymnasium, ich nicht. Wer weiß, was für ein herrliches Leben ich gehabt hätte, wäre ich nicht ‚bloß‘ Anwaltsgehilfin geworden.“
Erna und Horst werden das alles sicher sehr, sehr bedauern. Aber was sollen sie jetzt machen? Auf die große Reset-Taste drücken? Die Welt noch einmal erschaffen? Wäre Sylvia zufriedener, wenn nur noch die Richtigmacher Eltern werden dürften? Wen würde sie aber dann für ihr Unglück verantwortlich machen? Hätte sie mit diesem Anspruch überhaupt selbst Kinder in die Welt setzen dürfen?
Nicht mal die Experten sind sich einig, was das überhaupt sein soll: eine Erziehung ohne die klitzekleinste Chance für Kinder, ihren Eltern später Vorwürfe zu machen. Am Ende müssten wir die Verantwortung für alles, was in unserem Leben schiefläuft, selbst übernehmen! Das sollten Eltern ihren Kindern nun wirklich ersparen.
Schwamm drüber
„Über verschüttete Milch soll man nicht klagen“, lautet ein chinesisches Sprichwort. Und auch wenn es so klingt, als hätte Eckart von Hirschhausen einen Glückskeks zu Mittag gehabt – ich finde, es lohnt sich, darüber nachzudenken. Gerade weil der Stapel an offenen Rechnungen im Laufe der Jahre sonst so hoch wird, dass er die gute Laune darunter begräbt. Es macht einem das Leben sehr viel leichter, ohnehin reichlich abgestandene Ärgernisse einfach mal zu entsorgen: die Probleme in der Kindheit ebenso wie den Verrat der einstmals besten Freundin, den Ärger über den Ex, den Frust über die Kollegin, die einen damals beim Chef angeschwärzt hat, dass der ehemalige Freund einem seine Rostlaube – „prima Zustand“ – für ungefähr tausend Euro zu viel angedreht hat und dass der Typ nach der gemeinsamen Nacht nie mehr angerufen hat. Ja, sogar den Seitensprung des Gatten. Sofern er eine einmalige Sache bleibt.
Nachtragen bedeutet ja nichts anderes als in einer Zeitschleife in den finstersten Momenten seines Lebens stecken zu bleiben und sich dauernd mit Menschen und Angelegenheiten zu beschäftigen, die so viel Aufmerksamkeit wahrlich nicht verdient haben. Und dann ist man in dieser Gedankenwelt auch noch quasi Daueropfer. Eine Rolle, die ich persönlich ziemlich unerfreulich finde. Ich gönne es anderen einfach nicht, mir den Tag, ganze Wochen oder sogar ein halbes Leben versauen zu können. Ich habe tatsächlich Besseres zu tun, als meine Zeit mit Schuldzuweisungen, Racheplänen und diesen dauernden inneren Monologen zu verbringen, in denen man übt, was man dem anderen an den Kopf knallen könnte. Falls man ihn mal wieder sieht. Natürlich wird man großartig aussehen und total souverän auftreten. Ganz so, als würde man im Unterschied zu ihm auf ein rundum erfolgreiches Leben blicken. Aber ehrlich: Das wird den nicht die Bohne interessieren. Das Problem war ja gerade, dass dieser Mensch sich uns in keinster Weise verpflichtet fühlte. Und es ihm offenbar herzlich egal war, was er bei uns angerichtet hat. Kurz: Er ist schon längst ganz woanders, während wir ihm immer noch Zugang zu unserem emotionalen Hauptschalter gewähren.
Aber ich gebe zu: Manchmal denke ich trotzdem über die Anschaffung einer Voodoo-Puppe nach. Eine, die so aussieht, wie mein Nachbar. Und ein paar Nadeln, die ich immer in das Ding stecken kann, sobald er mich wieder einparkt oder seine stinkende Mülltonne vor meine Tür stellt. Dann fällt mir Regine ein. Vor mehr als zehn Jahren schon wurde sie geschieden. Von Stefan, der sie wirklich mies behandelt hat. Seitdem nimmt sie übel. Aktiv, indem sie jedem, der es nicht wissen will, davon erzählt. Ja, auch neuen Männern, was nicht besonders gut ankommt (und nebenbei auch einer der Gründe sein könnte, weshalb sie immer noch Single ist). Passiv, indem sie Stefans Leben aus der Ferne verfolgt. Immer in Erwartung, dass das Schicksal ihn bestraft für das, „was er mir angetan hat“. Tut es aber nicht. Nicht mal mit einem schlechten Gewissen. Stefan hat sich ja nicht mal für Regines Befinden interessiert, als sie noch zusammen waren. Warum sollte er jetzt damit beginnen? Er hat sie schon längst nicht mehr auf seinem Radar, während sie ihm sogar erlaubt, auch zukünftige Beziehungen zu beeinflussen. „Ich kann keinem Mann mehr vertrauen!“, sagt sie immer.
Es gibt längst viele Studien, die bestätigen, was hier passiert: dass Nichtverzeihen auch ein Akt der Selbstbestrafung ist und eng mit dem Selbstmitleid verpartnert. Dem überhaupt größten Bremsklotz im Leben. Auch gesundheitlich ist Nachtragen nicht zu empfehlen. Es fördert Bluthochdruck, Migräne, Depressionen und Schlafstörungen. Umgekehrt reduziert Verzeihen sämtliche Stresssymptome von Kopf- und