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Drei baltische Wege. Robert von LuciusЧитать онлайн книгу.

Drei baltische Wege - Robert von Lucius


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den Himmel.“ Die erste verbürgte Eintragung des Landesnamens in den Quedlinburger Annalen bot Anlass zu Feiern und Ausstellungen nicht nur in Litauen, sondern auch im Quedlinburger Schloss und im Roten Rathaus in Berlin.

      Sie wiesen auf den Behauptungswillen der Litauer, die sich immer wieder gegen Fremdherrschaft wehren mussten. Nach dem Großfürstentum und den Phasen der Besetzungen kamen die beiden neuerlichen Erklärungen der Unabhängigkeit 1918 und wieder 1991. Wie stark dieser Wille war, zeigte sich nicht zuletzt Anfang der Fünfziger, als etwa 100 000 Partisanen sich vergeblich gegen die sowjetische Besatzungsmacht wehrten.

      Nicht nur mit Quedlinburg, der „Wiege Deutschlands“, gibt es enge Bande zwischen Litauen und Orten im weiteren Umfeld des Harzes. Vilnius und Kaunas hatten wie andere Städte Mitteleuropas das „Magdeburger Recht“ übernommen. Auch die Sammlung der Bibliotheca Augusta, der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, hat Bestände, die für die litauische Forschung und für deutsche Baltisten (die sich traditionell stärker dem Litauischen und dem Altprussischen zuwenden als dem Lettischen) von einiger Bedeutung ist. Sichtbar wird das nicht zuletzt in der Zeitschrift „Archivum Lithuanicum“, in der umfangreiche Beiträge zu der litauischen „Wolfenbütteler Postille“ von 1573 erscheinen – diese wurde ediert und gedruckt in zwei Bänden, zusammen 1 700 Seiten lang. Da die dort gesammelten lutherischen Predigttexte umfangreich und früh sind, zählen sie zu den wichtigsten Texten für Sprachwissenschaftler, Theologen und Kulturwissenschaftler zugleich. Zu den digital zugänglichen Wolfenbütteler Beständen zählt das „Religionsgespräch in Vilnius“ von 1585.

      Der Wolfenbütteler Bibliotheksbegründer August der Jüngere hatte viele der Bücher noch selber erfasst und in seinen Bücherradkatalog eingetragen – als einen der letzten persönlich eingeschriebenen Texte eben die litauische Postille. Dass die herzoglichen Sammler sich Litauen besonders zuwandten und nach Werken suchten, war wohl eine Folge von Briefen, die mit dem Geschenk der litauischen Grammatik von Daniel Klein von 1653/1654 die litauische Sprache erläuterten.

      Ohne Ankündigung, nur wenigen Vertrauten bekannt, kam ein Dichter 1989 aus Los Angeles nach Vilnius. Binnen Kurzem aber, noch unter sowjetischer Besetzung, hörten viele Zehntausend seinen Lesungen zu, zunächst in Parks, dann im Sportpalast oder im Opernhaus von Vilnius. Viele Ältere kamen mit versteckten und verknitterten Gedichtbänden aus der Zeit vor fünfundvierzig Jahren, bevor Bernardas Brazdzionis, den seine Landsleute jetzt wie einen Propheten begrüßten, fliehen musste. Die Fülle von Ausstellungen, Jazzkonzerten, Lesungen damals wie jetzt belegt einen kulturellen Hunger, eine Dichte, die nicht oft zu finden ist bei einer solch kleinen Bevölkerung von 3,3 Millionen – weniger als Rheinland-Pfalz oder El Salvador.

      Die Geschichte der ersten Heimkehr von Brazdzionis zeigt mancherlei: In Vilnius verdichtet sich Kultur seit vielen Jahrhunderten. In den Jahren der Okkupation halfen Sprache und Literatur, nationalen Widerstand aufrechtzuerhalten. Und schließlich: Die Literatur Litauens ist zersplittert. Etwa die Hälfte aller bedeutenden Romane und Dichtungen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entstand im Exil, und ziemlich genau die Hälfte aller Schriftsteller floh 1944 vor den Russen nach Deutschland oder Amerika. Schon zuvor hatte Litauen Aderlasse des Geisteslebens durch Fluchtbewegungen – die südafrikanische Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer etwa entstammt einer Familie aus der Grenzregion von Lettland und Litauen – und durch die Vernichtung der litauischen Juden durch Nationalsozialisten und ihre litauischen Gehilfen erdulden müssen. Wie reich die litauische Literatur aber war und ist, zeigen Adam Mickiewicz und Czesław Miłosz (dem sich die Internationale Buchmesse in Vilnius 2011 zuwandte in Gedenken an seine Geburt vor hundert Jahren): Die überragenden polnischsprachigen Dichter des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnen sich beide als Litauer, und beide haben an der Universität Vilnius studiert.

      Dennoch ist die litauische Literatur im Ausland wenig bekannt. Das wurde nur unwesentlich anders, nachdem Litauen 2002 als erstes „kleines“ Land Partner der Frankfurter Buchmesse war. Dabei kann die litauische Sprache auf eine lange Tradition verweisen. Die Universität Vilnius wurde 1579 gegründet. Schon sechzig Jahre zuvor, achtzig Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks in Europa, entstand in der Stadt eine Druckerei. Manches wird eher in der Ferne bewahrt: Eine gut vierhundert Jahre alte litauische Bibel wurde erstmals 2002 im Ursprungsland ausgestellt – das Original liegt im Geheimen Staatsarchiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin.

      In den ersten Jahrhunderten wurden die meisten in Litauen erschienenen Bücher in einer slawischen Sprache oder auf Latein publiziert. Reich war das Litauische, obwohl es nie ein Nationalepos besaß, anfangs vor allem an Volksliedern und Märchen. Erst zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einhergehend mit der Wiedergeburt des litauischen Nationalismus, entstand eine breitere weltliche Dichtung. Fast zur gleichen Zeit befürchteten Sprachwissenschaftler einen Untergang des Litauischen wie des Altpreußischen. Einen Aufschwung erlebte die Literatur in den Jahren der Unabhängigkeit Litauens seit 1918, in denen in Vilnius zahlreiche literarische Magazine entstanden. Unterbrochen wurde das durch die sowjetische Besetzung 1940. Die bekanntesten Autoren lebten fortan in den Vereinigten Staaten und in vielen Ländern Europas, Tomas Venclova etwa, der in Yale russische Literatur lehrt, oder der Poet und Filmemacher Jonas Mekas. Manche kehrten nach 1991 zurück. Einer der bekanntesten Exildichter ist Antanas Skema. Zu den bedeutendsten jüngeren Autoren wird die 2007 verstorbene Novellistin Jurga Ivanauskaite gezählt – sie gehört zu den wenigen, deren Kurzgeschichten und Novellen in anderen europäischen Sprachen zugänglich sind. Die Helden Ivanauskaites sind junge Künstler, die nach einem Sinn im Leben suchen und die Gesellschaft umgestalten wollen. Einer der beliebtesten Autoren ist Ricardas Gavelis, der die sowjetische Mentalität und später die „neue Elite“ – auch wundersam zu „Freiheitskämpfern“ gewandelte Altkommunisten – verspottet.

      Zu den Eigentümlichkeiten jener, die in Litauen blieben, zählen Schwermut in der Poesie und der Versuch, mit doppeldeutigen Formulierungen und Andeutungen die Zensur zu überlisten. Über die Geschichte des Widerstands gibt es in den Jahren der Freiheit in Litauen noch kein bedeutendes literarisches Werk, auch große historische Themen fehlen in der zeitgenössischen Romanliteratur. Die beste Einsicht in die polnisch-litauische Geistesgeschichte und Mentalität ist beim in Litauen geborenen polnischen Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz zu finden, nicht bei litauischen Poeten. Viele wichen auf Kinderliteratur aus. In den letzten beiden Jahrzehnten erlebte die Literatur einen neuen Aufschwung, begünstigt durch die wiedererlangte Freiheit, das Wegfallen der Zensur, das Entstehen eines privaten Verlagswesens, den unbehinderten Austausch mit den Ideen des Westens und schließlich durch die Rückkehr vieler Exildichter.

      Sichtbar wurde dieser Austausch in einer rasanten Zunahme an Übersetzungen ausländischer Literatur ins Litauische, vor allem aus dem Deutschen. Der alte Buchladen im Innenhof der Universität in Vilnius lässt staunen: nicht nur wegen seiner historischen Ausstattung und Bemalung, sondern auch wegen der Bücher auf den Verkaufsregalen. Meter über Meter vertraute deutsche Autoren, übersetzt ins Litauische. Kaum ein Werk der Klassik oder der klassischen Moderne scheint zu fehlen, aber auch Karl Mays „Sohn des Bärenjägers“, Otfried Preußlers „Räuber Hotzenplotz“ und Erich Kästners „Fliegendes Klassenzimmer“ stehen dort. Kästner war wie Erich Maria Remarque oder Hermann Hesse schon vorher Bestseller. Nun kamen jüngere Autoren dazu. Vor einiger Zeit erschienen Übersetzungen von Robert Walser und Patrick Süskind, Bernhard Schlink und Michael Krüger. In der Nationalbibliothek gibt es einen Herder-Lesesaal mit deutschen Übersetzungen. Das Goethe-Institut in Vilnius und die Klassik Stiftung Weimar halfen bei einer Neuübersetzung und Aufführung des „Faust“. Selbst Eckermanns Gespräche mit Goethe sind auf Litauisch erschienen.

      Dies starke Interesse in Litauen an deutscher Literatur, vielfach größer als in Estland, das kulturell und historisch Deutschland näher ist, beruht vielleicht auf der Grenznähe zum alten Ostpreußen, oder auch darauf, dass Litauen anders als Lettland schon früh einen Lehrstuhl für Übersetzer einrichtete. Die deutschsprachige Baltistik hat eine lange Tradition, und sie hat sich auf das Litauische konzentriert, weit stärker als auf das Lettische oder das ausgestorbene Altpreußische. Ihr Schwerpunkt liegt aber auf der Linguistik statt auf der Literaturwissenschaft. Es scheint in Litauen mehr


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