Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele ReuterЧитать онлайн книгу.
nicht auszuhalten. Sie getraute sich nicht in das Zimmer mit der hellen Lampe, holte eilig ihren Hut vom Flur und lief davon, ohne Adieu zu sagen.
Was Eugenie ihr sonst noch erzählt hatte – nein, das war ganz abscheulich. Pfui – pfui – ganz gräulich. Nein, das konnte gar nicht wahr sein. Aber – wenn es doch wahr wäre?
Und ihre Mama und ihr Papa … Sie schämte sich tot.
Als Mama kam, ihr einen Gutenachtkuss zu geben, drehte sie hastig den Kopf nach der Wand und wühlte das heiße Gesicht in die Kissen. Nein – sie konnte ihre Mama niemals – niemals wieder nach so etwas fragen.
Am anderen Morgen trödelte Agathe bis zum letzten Augenblick mit dem Schulgang. Nun war es schon viel zu spät, um Eugenie noch abzuholen. Als sie in der Klasse hörte, dass Eugenie sich erkältet habe und zu Haus bleiben müsse, wurde ihr leichter. Mit wahren Gewissensqualen musste sie sich fortwährend vorstellen: Eugenie könnte vielleicht sterben … Und dann würde kein Mensch auf der Welt erfahren, was sie gestern miteinander gesprochen hatten. Das wäre doch zu grässlich – ach – wenn doch Eugenie lieber stürbe!
»Frau Wutrow schickte schon zweimal. Du möchtest herüberkommen«, sagte Frau Heidling zu ihrer Tochter. »Warum gehst Du nicht hin? Habt Ihr Euch gezankt?«
»Ich kann Eugenie nicht mehr leiden.«
»O, wer wird seine Freundschaften so schnell wechseln«, sagte Frau Heidling tadelnd. »Was hat Dir denn Eugenie getan?«
»Gar nichts.«
»Nun, dann ist es nicht hübsch von meinem kleinen Mädchen, ihre kranke Freundin zu vernachlässigen. Bringe Eugenie die Vergissmeinnicht, die ich auf dem Markt gekauft habe. Eugenie ist manchmal ein bisschen spöttisch, aber mein Agathchen ist auch sehr empfindlich. Du kannst viel von Eugenie lernen. Sie macht so hübsche Knixe und hat immer eine freundliche Antwort bereit, lässt nie das Mäulchen hängen, wie mein Träumerchen!«
Agathe sah ihre Mutter nicht an, mürrisch packte sie ihre Bücher aus. Es tat ihr schrecklich weh im Halse, als wäre ihr da alles wund. Sie hätte sich am liebsten auf die Erde geworfen und laut geschrien und geweint. Doch nahm sie gehorsam und ohne weiter etwas zu sagen den Strauß und ging. Unterwegs traf sie eine Bürgerschülerin, die sie kannte. Da warf sie die Blumen fort und schlenderte mit dem Mädchen.
Als sie auf ihren ziellosen Streifereien wieder am Hause ihrer Eltern vorüber kamen, sah Mama aus dem Fenster und rief sie zum Essen.
Agathe antwortete nicht und ging ruhig weiter. Sie hörte ihre Mutter hinter sich her rufen und ging immer weiter. Sie wollte überhaupt nicht wieder nach Hause zurück.
Auf einem freien Platz mit Blumenbeeten setzte sie sich auf eine der eisernen Ketten, die, zwischen Steinpfeilern herabhängend, die Anlagen schützen sollten, hielt sich mit beiden Händen fest und baumelte mit den Beinen. Das taten nur die allergemeinsten Kinder! Das Mädchen aus der Bürgerschule setzte sich auch auf eine von den Ketten. So unterhielten sie sich. Von Amerika. Wie weit es wäre, um dorthin kommen. Der Lehrer hatte ihnen erklärt, Amerika läge ganz genau auf der anderen Seite von der Erde. Man brauchte nur ein Loch zu graben, furchtbar tief – immer tiefer – dann käme man schließlich in Amerika an.
»Aber dazwischen kommt erst Wasser und dann Feuer«, sagte Agathe nachdenklich. Das hatte der Lehrer nicht gesagt. Aber Agathe glaubte es, ganz bestimmt. Eine entsetzliche Lust plagte sie, das mit dem Lochgraben einmal zu versuchen.
Da kam drüben auf dem Trottoir im hellen Sonnenschein Eugenie mit ihrer Mutter. Sie hatte ihren neuen lila Sammetpaletot an und das Barett mit dem Federbesatz. Wie sie sich zierte! Sie ging ganz sittsam zwischen ihrer Mutter und einem Offizier. Plötzlich bemerkte sie Agathe und stand erstaunt still, sie winkte und rief ihren Namen. Aber Agathe baumelte mit den Beinen und kam nicht. Frau Wutrow sagte etwas zu Eugenie, alle drei Personen sahen, wie es Agathe schien, empört zu ihr hin und spazierten dann weiter.
Agathe lachte verächtlich. Dann ging sie mit der Bürgerschülerin, die schon um zwölf Uhr zu Mittag gegessen hatte, trank mit ihr Kaffee und versuchte mit ihr im Hof das tiefe Loch zu graben, das nach Amerika führen sollte. Ach – wenn es wirklich wahr wäre!! Sie mühten sich ganz entsetzlich, nur erst den Kies und die Erde fortzubringen. Dann trafen sie zu ihrem grenzenlosen Erstaunen auf rote Ziegelsteine. Es wurde Agathe ganz seltsam zu Mut, so, als müsse jetzt ein Wunder geschehen – weiß Gott, was sie nun sehen würden. Mit aller Gewalt suchten sie die Ziegelsteine loszubrechen, schwitzten und stöhnten dabei. Und als der eine sich eben schon ein wenig bewegte – da kam jemand. Das andere Mädchen schrie laut auf vor Schrecken: »Hu – die schwarze Jule! Die schwarze Jule!«
Heidi jagte sie fort und Agathe hinterdrein. Während die Hauswirtin ins Leere über ihren verwüsteten Hof keifte, steckten beide kleine Mädchen im Holzstall und regten und rührten sich nicht vor Angst.
Aber das Nachhausekommen …! Sie musste doch einmal – es wurde schon dunkel – in der Nacht hätte sie sich auf der Straße totgefürchtet. Es gab auch Mörder da. Sie musste schon. »Ach Gott! Ach lieber Gott, lass doch Mama in Gesellschaft sein!«
Er war ja so gut – vielleicht tat er ihr den Gefallen.
Frau Heidling hatte inzwischen zu Wutrows geschickt, ob Agathe bei ihnen gewesen wäre.
Nein – sie hätte auf dem Kasernenplatze gesessen und mit den Beinen gebaumelt.
Agathe hatte jetzt alles vergessen, was sie am Morgen gequält. Sie empfand nur noch eine große Furcht vor ihrer Mutter, wie vor etwas schrecklich Erhabenen, vor dem sie nur ein kleines Würmchen war. Und dabei mischte sich auch eine bestimmte Sehnsucht in die große Angst. Vielleicht dachte ihre Mutter, sie hätte bei Wutrows gespielt, und alles war gut.
Als sie zaghaft und ganz leise klingelte, riss Walter die Tür auf, lachte laut und rief: »Da ist sie ja, die Range!«
Ihre Mutter nahm sie bei der Hand und führte sie in die Logierstube. Dort ließ sie sie im Dunkeln stehen.
Mama würde doch nicht? Nein – sie war ja schon ein großes Mädchen, dachte Agathe und fror vor Angst – nein, das konnte Mama doch nicht … Sie ging doch schon in die Schule …
Frau Heidling kam mit einem Licht und mit der Rute wieder.
»Nein! Nein! Ach bitte, bitte nicht!« schrie Agathe und schlug wie rasend um sich. Es war ein wilder Kampf zwischen Mutter und Tochter, Agathe riss Mama die Spitzen vom Kleide und trat nach ihr. Aber sie bekam doch ihre Schläge – wie ein ganz kleines Kind.
Als die schauerliche Strafe zu Ende war, wankte Frau Heidling erschöpft in ihr Schlafzimmer und sank keuchend und weinend auf ihr Bett nieder. Sie wusste, dass